Meinung

Putin und die Kriegsreporter II: "In Europa gibt es niemanden, mit dem man reden sollte"

Im zweiten Teil des Gesprächs geht es um das Gebiet der Ukraine, um Bürohengste im Verteidigungsministerium, um das Verhalten im Informationskrieg und um das Verhältnis Europas zu den Vereinigten Staaten von Amerika.
Putin und die Kriegsreporter II: "In Europa gibt es niemanden, mit dem man reden sollte"Quelle: Sputnik © Gawriil Grigorow

Von Dagmar Henn

(Fortsetzung vom ersten Teil)

Der Spiegel meint, Putin solle überhaupt "gleich das Ende der Ukraine verkünden", wenn er nicht als orientierungsloses Weichei dastehen wolle. Aber in Wirklichkeit ist Putin ein bedächtiger Mann, was auch zu bemerken ist, als Ilja Uschenin ihn fragt, ob nicht härtere Reaktionen auf das Überschreiten roter Linien angebracht seien, weil man es schließlich mit dem kollektiven Westen zu tun habe:

"Ist nicht der militärische Spezialeinsatz selbst eine Antwort auf ihre Überschreitung dieser Linien? Das ist der erste und wichtigste Punkt. Wir haben viele Male gesagt, 'Macht das nicht, lasst uns das erörtern, wir sind zu Gesprächen bereit'. Am Ende brachten sie uns dazu, durch den Einsatz von Gewalt zu versuchen, den Krieg zu beenden, den sie 2014 begonnen haben."

Und Putin verweist unter anderem auf den Raketenangriff auf die Zentrale des ukrainischen Militärgeheimdienstes. Aber vor allem, sagt er: "Wir werden weiterhin wählerisch vorgehen. Wir werden nicht das tun, was diese Schwachköpfe tun, wenn sie zivile Orte und Wohngebiete als Ziele benutzen."

Zur Zukunft der Ukraine bezieht er sich natürlich auf die Geschichte und auf die vielen sowjetischen Angliederungen, die erst das Gebiet erschufen, das dann die Ukrainische Republik innerhalb der Sowjetunion wurde, und er sagt unter anderem: "Was die betrifft, die sich als Ukrainer fühlen und in einem unabhängigen Staat leben wollen, um Gottes Willen: Tut was ihr wollt. Es ist nötig, das zu respektieren, aber dann schafft keine Bedrohung für uns." Und er zitiert seinen ehemaligen Petersburger Chef Sobtschak mit dem Satz: "Wenn du gehen willst, dann geh, aber nimm nur mit, was du mitgebracht hast." Das muss man ein wenig übersetzen; es bedeutet, eine unabhängige Ukraine hätte nur Anspruch auf das Gebiet, das tatsächlich historisch als Ukraine bekannt ist (wenn auch nie als unabhängiger Staat), also abzüglich des ganzen Bogens, der mit Neurussland bezeichnet wurde, von Odessa über Nikolajew bis Charkow.

"Was die Ukraine betrifft, von welcher Ukraine sprechen sie? Da war gar nichts dort, da war keine Ukraine. Die Ukraine erschien 1922, wie ich sagte. Und jetzt zertrümmern die dankbaren Nachfahren die Denkmäler für Lenin, den Gründer der Ukraine."

Natürlich, das ist keine Antwort auf die Frage, wo die russische Armee letztlich Halt macht. Aber – auch wenn es dem Spiegel missfällt – das hängt sehr davon ab, wie sich die gesamte Lage entwickelt, und das unterliegt nicht in der Kontrolle der russischen Regierung. Wenn beispielsweise der letzte Vorschlag von Frau Strack-Zimmermann umgesetzt würde, dass US-amerikanische F-16 von deutschen Flugplätzen starten, um dann in der Ukraine als vermeintlich ukrainische Flugzeuge eingesetzt zu werden, dann wäre auch Berlin als Ziel nicht auszuschließen.

Ein kleines Detail zur westlichen Beteiligung benennt er in der Antwort auf eine Frage zum Getreideabkommen. Vor einigen Tagen gab es den zweiten Angriff auf ein russisches Schiff, das die TurkStream-Pipeline bewacht, und zwar durch den Getreidekorridor mit vier Schwimmdrohnen.

"Drei davon wurden zerstört, die vierte verlor die Orientierung und wurde später erledigt. Unmittelbar danach tauchten vier weitere Drohnen auf. Gleichzeitig sahen wir, wie eine Drohne, die der strategischen Aufklärung der USA gehört, in der neutralen Zone unmittelbar darüber flog. Augenscheinlich steuerte sie die Bewegungen dieser Drohnen. (…) Die Bewegungen von Drohnen zu kontrollieren, die unsere Kriegsschiffe angreifen, das ist ein ernstes Risiko. Das ist sehr ernst, und sie sollen wissen, dass wir das wissen."

Russland werde, auch in Konsequenz aus diesem Vorfall, den Getreidedeal nicht verlängern, aber den ärmsten Ländern russisches Getreide umsonst liefern.

Das Verhältnis der Europäer zu den Amerikanern charakterisiert er mit einem alten Witz: "Punkt eins – die Amerikaner haben immer Recht. Punkt zwei – wenn die US-Amerikaner einmal nicht Recht haben, tritt automatisch Punkt eins in Kraft. Darum gibt es dort niemanden Besonderen, mit dem man reden sollte." Bei der Ukraine sei es noch schlimmer: "Punkt drei: Wenn die Interessen der Ukraine nicht mit Punkt zwei übereinstimmen, siehe Punkt eins, denn letztlich geht es um die Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie halten den Schlüssel, die Probleme zu lösen. Wenn sie ernsthaft den heutigen Konflikt durch Verhandlungen lösen wollten, müssen sie nur eine Entscheidung treffen, nämlich die Lieferung von Waffen und Ausrüstung beenden. Die Ukraine selbst stellt nichts her. Morgen werden sie Gespräche wollen, die nicht formal, sondern bedeutend sind, und uns nicht mit Ultimaten kommen, sondern zu dem zurückkehren, was – sagen wir – etwa in Istanbul vereinbart wurde."

Dmitri Kulko fragt, ob man nicht auf die Ankündigung der USA, jetzt ebenfalls Munition mit abgereichertem Uran zu liefern, reagieren müsse. Putins Antwort darauf ist so einfach wie verblüffend. Er erinnert an die Berechnungen zu den Produktionszahlen und sagt dann: "Sie haben schlicht keine Granaten, aber sie haben Granaten mit abgereichertem Uran in ihren Lagerbeständen. (…) Anscheinend haben sie noch Granaten mit abgereichertem Uran auf Lager, und das ist die einfachste Option, weil es Geld und Mühen fordert, die Produktion zu erhöhen." Die USA selbst versuchten also auf diese Weise zu vermeiden, allzu viel in diese Produktion investieren zu müssen, nötigten aber die Europäer, die Produktion in Tschechien und andernorts hochzufahren. "Europa hat seine eigenen Probleme, mit der Gesundheitsversorgung, dem Transportwesen, der Bildung. Es gibt viele Probleme dort, und sie zwingen die Europäer, eine Munitionsfabrik zu bauen."

"Aber die Amerikaner verhalten sich sehr pragmatisch, und alles, was sie tun, ist einzig in ihrem eigenen Interesse; die Interessen ihrer Verbündeten interessieren sie nicht. Sie haben keine Verbündeten; sie haben nur Vasallen. Und ihre Vasallen fangen an zu begreifen, für welche Rolle sie bestimmt sind."

Als illustrierendes Beispiel für das Verhältnis zwischen den europäischen Staaten und den USA erinnert Putin an den Vertrag über die Lieferung von U-Booten an Australien, den die Amerikaner zerschlugen. "Und was taten sie als Erwiderung? Nichts. Mehr noch, wir wissen, dass sie den Amerikanern ins Ohr flüsterten: wir müssen ein paar öffentliche Erklärungen abgeben, öffentlich mit euch streiten – und dann kriechen wir ganz ruhig davon, bitte seid uns nicht böse. Das war alles. Sie sind nicht so entschlossen wie wir hier in Russland. Da ist keine Leidenschaft, das sind verlöschende Nationen, das ist das ganze Problem."

Der Schluss dieser Äußerungen wird auch vom Spiegel zitiert, aber weil die Zustandsbeschreibung davor fehlt, ist es möglich, das Ganze auf eine halb esoterische Ebene zu ziehen, um sich dann darüber lustig zu machen: "Denn der Westen ist am Ende, zivilisatorisch gesprochen. 'Verlöschende Nationen' nennt er die westlichen Gesellschaften, weil ihnen schlicht die Lebensenergie fehlt – er spricht von 'Passionarnost', einem Begriff des esoterischen Geschichtstheoretikers Lew Gumiljow, der in Putins Generation populär war." Auf diese Weise versieht man eine Bemerkung, die das Fazit aus unbestrittenen Tatsachen zieht, mit einem Unterton von Rasputin. Dabei war es an dieser Stelle noch ein Glück, dass Putin die französischen U-Boote als Beispiel nahm und nicht das deutsche Elend nach Nord Stream.

(Wobei die Bemerkung "Wo bleibt denn die Leidenschaftlichkeit von Putin selbst" besonders erheiternd ist, wenn man das Video betrachtet. Selbstkontrolle und Mangel an Leidenschaft sind nun einmal zwei verschiedene Dinge.)

Der Fokus der Reporter liegt aber eher auf den russischen Problemen. Juri Podoljaka beispielsweise trägt die Beschwerde vor, es gebe zu wenige Geräte, um Drohnen aufzuspüren, und sie müssten über Spenden finanziert werden, weil das Verteidigungsministerium für die Zulassung zu lange brauche. Putin verweist darauf, dass da auch seinen Möglichkeiten Grenzen gesetzt sind: "Wenn es Ideen gibt, diese unnötigen bürokratischen Prozeduren zu umgehen, um alles an der Spitze zu entscheiden, und ich anfange, da etwas anzuschieben, dann lautet die Antwort: Sie wissen doch, wir müssen die Wirksamkeit überprüfen, ist das wirklich so?" Podoljaka reagiert in diesem Moment etwas verärgert und entgegnet, die Soldaten hätten da ein gutes Gegenargument: "Wenn das nicht effektiv ist, dann gebt uns doch das, was effektiv ist."

Die Bürokratie des Verteidigungsministeriums wird auch von Semjon Pegow angesprochen, der beklagt, dass talentiertes Personal, das sich im Einsatz bewährt hat, nicht schnell genug aufsteigt. Auch hier gesteht Putin Probleme ein: "Vor dem militärischen Spezialeinsatz gab es natürlich – wie in jeder Regierungsbehörde – eine Menge Bürohengste. (…) Der Sondereinsatz begann, und sie erkannten sehr schnell, dass diese Bürohengste, von denen es in jeder Armee der Welt unter Friedensbedingungen mehr als genug gibt, nicht effektiv sind, um es milde zu formulieren."

Diese Formulierungen lassen erkennen, dass nicht nur die Entwicklung der militärischen Industrie angegangen wird, sondern auch die Probleme in der Verwaltung (und die NATO-Bürokratie dürfte unter wirklichen Kriegsbedingungen ein besonders erbauliches Schauspiel liefern). Auch Sicherheitsthemen, in denen sich ähnliche Fragen stellen, wurden angesprochen: von den Attacken auf das Grenzgebiet bei Belgorod über die ukrainischen Terroranschläge bis hin zur westlichen Propaganda. Und hier machte Putin einige wichtige politische Aussagen: "Eine Einführung irgendeines besonderen Regimes oder des Kriegsrechts im Land ergibt keinen Sinn, heute ist das nicht nötig." Bezüglich westlicher Propaganda sagte er: "Dem kann und soll nicht vor allem durch Beschränkungen oder Verbote durch die Verwaltung oder die Strafverfolgung begegnet werden, sondern durch wirkungsvolle Arbeit im Informationsbereich von unserer Seite. Und dabei zähle ich wirklich auf Ihre Hilfe."

Die Reporter waren damit allerdings nicht zufrieden, und Murad Gasdijew sagte gegen Ende des Treffens, die Soldaten seien empört, wenn sie wieder einmal lesen würden, wie ein Beamter oder Universitätsprofessor daran arbeitet, junge Leute von der ukrainischen Position zu überzeugen: "Diese Leute sind nicht einmal vorsichtig, sie fürchten sich nicht vor Strafbefehlen. Ich weiß, und dabei waren Sie auch sehr klar, dass wir nicht wie das ukrainische Regime handeln werden: Sack über den Kopf, und die Person verschwindet für immer. Aber, da wir nicht sind wie sie, geradezu dagegen kämpfen, ... ist es nicht ein Verrat an unseren Werten, die Lage so zu lassen, wie sie ist?" Und Putin erwidert: "Es so zu lassen, grenzt an Verrat."

Es finden sich also eine ganze Reihe Äußerungen von diesem Treffen, die notwendige Veränderungen in Bezug auf die russische Gesellschaft benennen. Es ist da fast erstaunlich, dass Der Spiegel die Aussagen über die westliche Propaganda und deren russische Vertreter nicht aufgegriffen hat. Aber womöglich wäre das doch eine zu harte Kollision mit der deutschen Realität, wo der Staat ja angeblich kein Teilnehmer dieses ukrainischen Krieges ist, sich tatsächlich im Umgang mit Meinungsäußerungen aber so verhält, als hätte er bereits das Kriegsrecht in Deutschland verhängt, ohne eben dies klar und sichtbar zu erklären.

Aber genug der Worte. Eigentlich müsste man dieses Gespräch von Anfang bis Ende sehen, weil es nicht nur einen ungewöhnlichen Blick auf Wladimir Putin ermöglicht, sondern auch einen Einblick, wie in der russischen Gesellschaft tatsächlich gedacht wird. Eine Zusammenfassung wie diese kann da nur ein schwacher Ersatz sein.

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