Meinung

Der Westen hat höchstens noch zwei Monate um zu verhandeln

Egal, wie oft beteuert wird, die Ukraine dürfe nicht verlieren, und in Wirklichkeit gemeint wird, der Westen dürfe nicht verlieren – weder militärisch noch ökonomisch ist er dabei zu gewinnen. Im Gegenteil. Welche Optionen bleiben noch?
Der Westen hat höchstens noch zwei Monate um zu verhandelnQuelle: www.globallookpress.com © Bernd von Jutrczenka

von Dagmar Henn

Wenn man sich ein wenig vom weiter tapfer aufrechterhaltenen westlichen Narrativ fortbewegt, nach dem die Sanktionen wirken und die demokratische Ukraine sich heroisch verteidigt und sicher mit noch ein paar mehr westlichen Waffen siegen werde, fragt man sich allmählich, welcher Irrsinn die westlichen Eliten geritten hat, sich in eine solche Lage zu begeben. Wäre das ein Skatspiel, müsste man sagen, total überreizt, und damit eigentlich schon längst verloren.

All das, was man zu Beginn vermuten konnte, die Folgen der industriellen Schwäche beispielsweise, wurde inzwischen sogar in westlichen Medien bestätigt. Zumindest in einigen Bereichen der Fachpresse, wenn auch noch lange nicht im Mainstream. Die Tatsache, dass die gesamte NATO beispielsweise gar nicht die Munition hätte, um am Verlauf der militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine Wesentliches zu ändern. Und vor allem nicht die Produktionskapazitäten, um dem irgendwie abzuhelfen. Die Tatsache, dass die verhängten Sanktionen massive Folgen für die gesamte Ökonomie des Westens haben.

Vor diesem Hintergrund wird das Eingeständnis eines Jens Stoltenberg, die NATO habe sich acht Jahre lang auf diesen Konflikt vorbereitet, zum Bekenntnis völliger Unfähigkeit. Denn mit Sicherheit wurden nicht nur ukrainische Truppen ausgebildet und bei ihren Angriffen auf den Donbass kontinuierlich unterstützt, materiell wie immateriell, auch die Sanktionspakete dürften Teil dieser langfristigen Vorbereitungen gewesen sein. In beiden Fällen dürfte völlige ökonomische Unkenntnis ihren Teil dazu beigetragen haben. Und eine entsprechend große Unfähigkeit, Fehler zu erkennen und zu korrigieren – die ersten Sanktionen gegen Düngemittel wurden bereits im Sommer letzten Jahres gegen Weißrussland verhängt und schlugen sich schon in den Preisen nieder; da brauchte es keine prophetischen Kenntnisse, um zu sehen, dass eine Wiederholung des gleichen Schritts gegen Russland katastrophale Folgen auslöst.

In der Ukraine verlaufen die Kämpfe so, wie es viele der "alternativen" Kommentatoren von Anfang an vorhergesagt hatten. Die ukrainischen Truppen werden Stück für Stück in Kessel genommen und aufgerieben oder gefangen genommen. Die Berge militärischer Ausrüstung, die der Westen mittlerweile dorthin geliefert hat, machen sich zwar im weiter fortgesetzten Beschuss des Donbass bemerkbar, für den inzwischen auch NATO-Kaliber eingesetzt werden, aber nicht in irgendwelchen Erfolgen der Kiewer Macht. Die jüngst erfolgte Befreiung von Lissitschansk ist ein weiterer Beleg dafür; aber es ist, das kann man nicht oft genug wiederholen, die Umsetzung einer Gesamtlage, die bereits seit Mitte März feststeht. Seitdem werden all jene, die auf ukrainischer Seite umkommen, nur noch nutzlos geopfert, um eine letztlich unvermeidliche Kapitulation noch etwas hinauszuzögern.

Es mag ja sein, dass die USA damit das Ziel verfolgen, die russische Armee zu schwächen. Der Preis dafür auf der ökonomischen Seite ist aber enorm. Wie schrieb der Harvard-Professor Brahma Chellaney, der schon vor längerer Zeit vor den Rückwirkungen der Sanktionspolitik gewarnt hatte, erneut in The Hill? "Wie der Westen jetzt entdeckt, verursachen Sanktionen gegen einen großen, mächtigen Staat nicht nur den Ländern, die sie verhängen, bedeutende Kosten, sondern sie belohnen auch Länder, die sich weigern, sie umzusetzen. Tatsächlich haben die Sanktionen Russland zusätzliche Erträge aus hochpreisigen Energie-Exporten verschafft, die kein vom Westen betriebener Preisdeckel ernsthaft rückgängig machen könnte. Und dennoch wird diese Lektion ignoriert und der Ruf nach mehr und mehr strafenden Handlungen hat zu einer stetig wachsenden Zahl von Sanktionen gegen Russland geführt, und zu einem größeren Fluss militärischer Hilfe in die Ukraine, als gäbe es keine Schwelle, die den westlichen Drang nach Bestrafung oder nach militärischer Beteiligung in dem Konflikt befriedigen könnte."

Ganz im Gegenteil. Nicht nur in Deutschland war zuletzt zu beobachten, dass tatsächlich – während die Folgen der Russlandsanktionen sich durch die westliche Ökonomie fräsen wie ein Kettensägenmassaker – inzwischen die mediale und politische Vorbereitung auf weitere Sanktionen gegen China läuft. Auch dazu hat Chellaney etwas zu sagen: "Wenn sich die Sanktionen schon als unwirksam erwiesen haben, um Russlands Verhalten zu ändern, würde es entsprechenden Sanktionen gegen China noch schlechter ergehen, dessen Wirtschaft etwa zehn Mal so groß ist wie die Russlands. Tatsächlich würden die jetzigen wirtschaftlichen Schmerzen, die der Westen von seinen Sanktionen gegen Moskau ertragen muss, vor dem Schaden, den Sanktionen ähnlichen Typs gegen China verursachen würden, geradezu winzig erscheinen."

Nichtsdestotrotz hat die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Madrid China jetzt offiziell zur "Systemkonkurrenz" erklärt und damit im Grunde die Aufnahme der üblichen Sanktionspolitik durch ihre Mitgliedsländer bereits angekündigt. Wenn man betrachtet, welche Ergebnisse die letzten acht Jahre Vorbereitung durch diese Organisation zeitigten, kann man im Grunde nur hoffen, dass sie das Zeitliche segnet, ehe es ihr gelingt, diese Pläne umzusetzen.

Währenddessen manifestieren sich inzwischen die absehbaren ökonomischen Folgen. Alexander Mercouris hat sich in seinem jüngsten Video ebenfalls mit der gegebenen Mischung aus militärischen und wirtschaftlichen Entwicklungen befasst und kommt zu einer für den Westen sehr pessimistischen Perspektive. Dabei dient ihm insbesondere die Lage in Japan und in Deutschland als Ausgangspunkt.

In Japan drohen massive ökonomische Probleme, weil die Lieferung von russischem Flüssiggas aus Sachalin-2 gefährdet ist. Eine Lage, die die japanische Politik ebenso sehr selbst herbeigeführt hat wie die deutsche die hiesige. Aber das würde nicht nur Japan betreffen: "Wenn Japan Probleme mit seiner Energieversorgung hat und das dazu führt, dass Industrien in Japan schließen, dann wird das natürlich Lieferprobleme in der übrigen industrialisierten Welt weiter verschärfen. Japan ist nach wie vor ein Großexporteur von Industrieprodukten. Und natürlich, wenn Deutschland denselben Weg geht, werden sich die Probleme vervielfachen."

In vielen Bereichen der industriellen Produktion verbergen sich irgendwo entlang der oft über Kontinente verteilten Produktionsketten Monopolisten oder Quasi-Monopolisten, deren Erzeugnisse schlicht nicht ersetzt werden können. Das ist im vergangenen Jahr sichtbar geworden, als plötzlich bestimmte Chips in der Automobilproduktion fehlten. ABS-Systeme etwa, die in allen möglichen Fahrzeugmarken verbaut werden, stammen immer aus dem Hause Bosch. Wenn diese Produktion steht, hat das globale Folgen. Optische Gläser hoher Qualität liefern weltweit zwei Hersteller. Glasproduktion ist aber energieintensiv und daher besonders bedroht, aber gerade die qualitativ besonders hochwertigen Produkte entstehen eben nicht irgendwo in der Peripherie und werden somit zwangsläufig getroffen. Für Druckmaschinen für Geldscheine gibt es ebenfalls fast ein Monopol, das liegt bei König und Bauer in Würzburg.

Wenn die Produktion normal läuft, fällt die Rolle, die solche Lieferanten spielen, gar nicht auf, und es gibt auch keine Stelle, die sich mit der Verwundbarkeit industrieller Produktionsstränge befasst und ohne Weiteres sagen könnte, an welchen Punkten das Risiko besonders hoch ist. Klar ist jedenfalls, dass zu der Frage, welche Produktionen sich besonders massiv auswirken, auch noch die Frage käme, welche Produktionen unter Umständen, wenn sie einmal stillgelegt wurden, nicht mehr angefahren werden können, wie die Glasschmelze beispielsweise. Der Verlauf der letzten Monate lässt erkennen, dass man sich nicht einmal Gedanken über die Folgen des Ausfalls eines simplen Erzeugnisses wie Harnstoff gemacht hat, von den komplexeren Fragen der Anlagentechnik ganz zu schweigen. Vermutlich gibt es niemanden, der tatsächlich beziffern könnte, welche Folgen eine Abschaltung des weltgrößten Chemiewerks, der BASF in Ludwigshafen, haben würde, wo und für wie lange.

"Wir haben die wirklich schlimme Zeit dieser wirtschaftlichen Krise noch nicht erreicht", sagt Mercouris, "aber das Ergebnis dieses Wirtschaftskrieges ist bereits eine enorme Menge von Schäden". Im Herbst dürfte es für die Politiker, die ihre Länder in diese Richtung gedrängt haben, schwierig werden. Schwierig in dem Sinne, dass sie zu Recht für die Folgen ihrer Entscheidungen zur Verantwortung gezogen werden. Bisher aber ließen sich keine Zeichen für eine Einsicht erkennen.

"Es ist erstaunlich, bis zu welchem Punkt sich die westlichen Staatschefs dabei Illusionen hingeben."

Vernünftigerweise müssten sich die Politiker der westlichen Länder jetzt Gedanken machen, wie sie den Konflikt doch noch irgendwie beenden können. "Das Zeitfenster, in dem es möglich ist, diese Krise in Europa auf eine Weise zu lösen, die ein völliges Debakel verhindert, schließt sich. Die unheilige Allianz zwischen den Neocons in Washington, den Leuten in der EU und andernorts, die ihre besonderen Pathologien und Phobien Russland und vielleicht auch fossile Brennstoffe betreffend ausleben, und der gegenwärtigen ukrainischen Regierung natürlich, hinterlässt massive Schäden in den westlichen Gesellschaften, und sie werden irreparabel, je länger das andauert."

Irreparabel, weil die zuständigen Politiker mit Vernetzungen nicht umgehen können. Das zeigte sich schon an der Frage eines Blackouts im Stromsystem, der schon vor dem russischen Militäreinsatz drohte, dessen Risiko aber völlig unterschätzt wird, weil die Vorstellung vorherrscht, da müsse einfach nur wieder angeschaltet werden. Ähnliche Strukturen von untrennbar miteinander verknüpften Vorgängen finden sich aber noch auf vielen weiteren Ebenen; man könnte sagen, die Gesamtheit der Produktionsprozesse ist eine Art Metamaschine, die auf Eingriffe aller Art äußerst empfindlich reagiert (und in dieser Komplexität eigentlich mit einer Konkurrenzökonomie bereits inkompatibel ist). Die westlichen Politiker stehen vor dieser Metamaschine, halten einen Holzschuh in der Hand und überlegen, ob sie ihn hineinwerfen sollen. Nein, eigentlich sehen wir momentan in Zeitlupe zu, wie er ins Räderwerk fällt, und müssen leise darauf hoffen, dass ihn irgend jemand noch rechtzeitig auffangen möge.

"Die militärischen Tatsachen zeigen deutlich in eine Richtung", sagt Mercouris, "und dasselbe gilt für die wirtschaftlichen Tatsachen. Die Menschen im globalen Süden sehen das. Vielleicht – seien wir einmal etwas optimistischer als Kissinger, sagen wir einmal, wir haben bis Ende August, aber das ist nicht so lang. Zwei Monate im günstigsten Fall".

Zu diesem Zeitpunkt hat sich der Kältewinter noch nicht manifestiert. Ob der Widerstand der Bevölkerung, in welchem der westlichen Länder auch immer, in so kurzer Zeit stark genug sein wird, um einen Politikwechsel zu erzwingen, ist fraglich. Vielleicht machen die Entwicklungen in den Niederlanden in den letzten Tagen da etwas Hoffnung.

Einsicht bei den momentan Regierenden erwartet auch Mercouris nicht: "Sicher muss etwas passieren mit dem jetzigen Amtsinhaber im Weißen Haus, der klar unfähig ist, einen anderen Kurs zu setzen als den verhängnisvollen, auf den er die Vereinigten Staaten und den Westen gelenkt hat. Wie das in den Vereinigten Staaten geklärt wird, überlasse ich dem amerikanischen Volk und seiner politischen Klasse. Es ist nicht an mir, den Amerikanern zu erklären, wie sie ihre eigenen internen Probleme lösen." Das Wie benennt Mercouris nicht, aber das Was durchaus. Ohne einen – erzwungenen – Wechsel an der Staatsspitze wird sich nichts ändern. In den anderen westlichen Ländern ist die Lage nicht günstiger.

Im Gegenteil, wenn man liest, wie sich jetzt erst der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geäußert hat, muss man fürchten, dass kein Funke einer Einsicht zu erwarten ist. Er sprach von einem "mörderischen Verbrechen", das Russland in der Ukraine begehe (wie dreist das von einer der Schlüsselfiguren von Umsturz und Bürgerkrieg in der Ukraine ist, möchte ich hier nicht wiederholen), und sagte weiter: "Wir müssen uns zur Wehr setzen. Das schulden wir den vielen mutigen Menschen in der Ukraine, die Tag für Tag Widerstand leisten." Steinmeier kennt die Wahrheit vermutlich mit am besten in dieser Republik, und er ist am Schlusspunkt seiner politischen Karriere angelangt, könnte also den Elder Statesman geben, der für Vernunft plädiert, ehe noch mehr Porzellan zerschlagen wird in diesem Porzellanladen; offenkundig bleibt er lieber in der Rolle des Elefanten.

Dabei sollte die Schlussfolgerung, die Mercouris zieht, selbst erbitterten Russenhassern zu denken geben. Sollte sich die militärische Entwicklung im Donbass so fortsetzen, wie sie sich momentan abzeichnet, ebenso wie die Folgen für die ökonomische Lage, dann "befinden wir uns, sobald der Herbst kommt, da bleibt kein Zweifel möglich, in einer Lage, in der es die Russen sind, die schlicht die Bedingungen diktieren. Ob das die Lage ist, in die wir uns bringen wollen – nun, ich überlasse es der politischen Klasse des Westens, darüber nachzudenken".

Angesichts der politischen Landschaft in Deutschland kann ich allerdings selbst seinen Restoptimismus nicht teilen, die westlichen Länder brächten genug Verstand auf, vor dem völligen Ruin zu kapitulieren. Ich fürchte, sie folgen dem Muster, das sie der Ukraine auferlegt haben, und bestehen darauf, einen längst verlorenen Kampf weiter fortzusetzen, bis Berlin oder Washington gefallen sind. Solange sich die Untertanen das bieten lassen.

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