Polen, Reparationen und das Rückgrat der SPD
Von Dagmar Henn
Die SPD soll also bereit sein, über polnische Reparationsforderungen zu reden. Sollte diese Information zutreffen (bisher gibt es dazu nur die Aussage eines Staatssekretärs im polnischen Außenministerium), gibt sie auf diese Forderungen genau die falsche Antwort. Weil es bis 1990 dauerte, bis die Oder-Neiße-Grenze unter den Politikern der alten Bundesrepublik tatsächlich mehrheitlich anerkannt war, und die SPD damit nur die Dummheit der polnischen Regierung verstärkt, dieses Fass wieder zu öffnen.
Zu meiner Schulzeit (die 1981 endete) zeigten Schulbücher in Bayern immer noch Deutschland in den Grenzen von 1937. Während die DDR von Anfang an diplomatische Beziehungen nach Polen unterhielt und bereits 1950 die Oder-Neiße-Grenze als provisorische Grenzziehung bis zum Abschluss eines Friedensvertrages anerkannte, begannen die diplomatischen Beziehungen der Westrepublik erst im Rahmen der Ostpolitik von Willy Brandt mit Abschluss des Warschauer Vertrages 1970. Noch bis weit in die 1980er hinein betrieb insbesondere die CSU damit Politik, die polnisch-deutsche Grenze immer wieder in Frage zu stellen. Erst mit den Verhandlungen um den Zwei-plus-vier-Vertrag 1990 wurde diese Grenzziehung von deutscher Seite als endgültig anerkannt.
Man muss wissen, wie sehr die Vertriebenenverbände in der alten Bundesrepublik die außenpolitischen Ansichten auf konservativer Seite beeinflussten und wie ausgeprägt der Revanchismus war (nicht nur gegenüber Polen, auch gegenüber der Tschechoslowakei), um wirklich zu erkennen, welche Abgründe die polnischen Forderungen wieder freilegen. Damals hat die Ostpolitik Willy Brandts, auch wenn sie darauf abzielte, den Warschauer Vertrag, das Gegenstück der NATO, zu untergraben, in der Bundesrepublik nach Jahrzehnten erbitterten Festhaltens an Gebietsansprüchen endlich dazu geführt, die Kriegführung Hitlerdeutschlands als verbrecherisch und die dadurch ausgelösten Gebietsverluste als legitim anzuerkennen.
Brandt konnte das erreichen, weil er im Exil gelebt hatte und der erste bundesdeutsche Kanzler war, der weder mit den Nazis kooperiert hatte noch selber einer war. Die Hetze, die sich nach seinem Kniefall im Warschauer Ghetto insbesondere durch die Bild-Zeitung zog, kann man sich nur vorstellen, wenn man die heutige antirussische Propaganda betrachtet. Es war genau die Tatsache, dass Brandt auf keine Weise an den Naziverbrechen beteiligt war, die ihm zum einen eine größere Glaubwürdigkeit verlieh, solche Verhandlungen zu führen, und zum anderen wirkliche Schritte einer Aussöhnung ermöglichte.
Wenn man die Grenzveränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet, war Polen tatsächlich der große Gewinner. Die russischen Gebiete, die unter Marschall Piłsudski im russischen Bürgerkrieg von der Sowjetunion erobert wurden, gingen zwar an diese zurück, aber die deutschen Ostgebiete waren ökonomisch weitaus wertvoller. Oberschlesien war eines der ältesten deutschen Industriegebiete.
Der Verlust dieser Region hatte vor allem für die DDR Folgen – die damals für die Energieversorgung essenzielle Steinkohle fand sich in Deutschland nur dort oder im Ruhrgebiet, das Teil der Bundesrepublik wurde; über Jahrzehnte hinweg, bis zum Bau der ersten sowjetischen Pipeline, blieb es ein Problem, die von der Industrie benötigte Energie sicherzustellen. Dass auch die DDR mit diesem Ergebnis nicht ganz glücklich war, lässt sich daran erkennen, dass die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zwar als Errungenschaft im Sinne des Friedens gefeiert wurde, aber eben doch nur provisorisch war.
All das ist lange her, in der Wahrnehmung der meisten Deutschen sind weder Oberschlesien noch Gdansk noch deutsch; aber es war, ausgesprochen oder unausgesprochen, immer die Erwartung, dass mit der Anerkennung dieser Grenze das Thema auch abgeschlossen ist. Polen wäre auch in der Frage eines Friedensvertrages nie Subjekt gewesen; denn ein solcher hätte zwischen den damaligen Besatzungsmächten und Deutschland verhandelt werden müssen.
Es mag sein, dass die heutige SPD meint, sie würde sich mit ihrer Nachgiebigkeit gegenüber den polnischen Forderungen in den Spuren der Brandtschen Politik bewegen. Was schon insofern absurd ist, als diese Politik auch Schritte der Versöhnung mit der Sowjetunion beinhaltete, gegen deren Rechtsnachfolger, die Russische Föderation, jeder dieser Schritte in den letzten Jahren zurückgenommen wurde. Der Unterschied zwischen der antirussischen Position der Regierung Scholz und jener der Regierung Duda ist ein quantitativer, kein qualitativer.
Vielleicht glaubt die SPD-Führung auch, mit besonderer Nachgiebigkeit Polen gegenüber die Geister unter Kontrolle zu halten, die mit der Stellung gegen Russland heraufbeschworen werden; als wäre es möglich, den antislawischen Rassismus zu reaktivieren, die Polen aber davon auszunehmen. Das wird eine Illusion bleiben.
Oder es ist ein weiterer Auswuchs der Unterwürfigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten, deren europäische Lieblingskolonie augenblicklich Polen zu heißen scheint, verstärkt durch die Ehe zwischen dem ehemaligen polnischen Außenminister Radosław Sikorski und der Neokon-Ideologin Anne Applebaum. Das stünde dann in einer Linie mit dem schändlichen Schweigen zu Nord Stream. Nun, Unterwürfigkeit gegenüber den USA ist jämmerlich genug. Aber Unterwürfigkeit gegenüber Polen?
Man könnte natürlich ganz verwegen spekulieren, dass die Absicht der USA hinter dieser polnischen Überheblichkeit schlicht darin besteht, die west- und mitteleuropäischen Länder als globalen Faktor dauerhaft auszuschalten, indem die inneren Konflikte angeheizt werden, und zwischen Deutschland und Polen ist da immer etwas zu holen. Oder es ist wieder eine polnische Fehlkalkulation im Vertrauen auf einen fernen Verbündeten, der sich am Ende als ebenso verlässlich erweisen wird wie sein britischer Vorgänger im Jahr 1939, als alle britischen Zusicherungen gegenüber der polnischen Regierung nicht das Papier wert waren, auf das sie geschrieben wurden.
Die Nachgiebigkeit, die die SPD zu zeigen scheint, wird in Deutschland auf wenig Gegenliebe stoßen. Denn neben der verhängnisvollen Frage der Ostgebiete sind da auch noch die EU-Subventionen, die ab 2003 nach Polen geströmt sind, und deren Quelle weitgehend der deutsche Staatshaushalt war. Sicher, davon haben am Ende auch deutsche Konzerne profitiert, aber finanziert haben das die einfachen Bürger. Die Forderung von 1,5 Billionen, die Polen überreicht hat, entspricht dem kompletten Bundeshaushalt von vier Jahren.
Soll nun also, um die den Interessen der deutschen Bevölkerung in jeder Hinsicht widersprechende antirussische Front mit Polen aufrechtzuerhalten, eine Forderung akzeptiert werden, die nicht nur ein weiterer Schritt gegen ebendiese Interessen ist, sondern auch noch alle Schritte deutsch-polnischer Versöhnung in Frage stellt?
Der Kniefall des bundesdeutschen Kanzlers Willy Brandt in Warschau 1970 war eine ehrliche und beeindruckende Geste, die half, das Schweigen der Adenauer-Jahre aufzubrechen, das im Interesse der von Adenauer beschützten Nazieliten über den Verbrechen Hitlerdeutschlands lag. Der Kniefall, der sich bei der heutigen SPD abzeichnet, dient dem genauen Gegenteil. Denn das logische Dilemma ist nicht zu lösen – wenn Polen einen berechtigten Anspruch gegenüber der heutigen Bundesrepublik hat, trotz Oberschlesien und Danzig, wie gewaltig wäre dann der berechtigte Anspruch Russlands? Oder Weißrusslands?
(Komme jetzt keiner mit der Idee, Russland durch die Ukraine zu ersetzen. Erstens lehnt diese Ukraine schließlich jede Verbindung mit der Sowjetunion ab und zweitens war der Wiederaufbau der von der Wehrmacht zerstörten Städte und Dörfer auf heutigem ukrainischem Gebiet etwas, was vor allem aus der Wirtschaftsleistung der russischen Sowjetrepublik finanziert wurde. Die Bevölkerung des Donbass spiegelt diese gemeinsame Anstrengung noch heute wider.)
Und andersherum, wenn man, weit unterhalb von Ansprüchen auf materielle Entschädigung, es nicht einmal mehr für geboten hält, mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion den Frieden zu wahren, welchen Anlass hätte man dann, polnische Forderungen anzuerkennen?
Womöglich ist die Antwort aber noch einfacher und die SPD folgt schlicht dem Vorbild ihres Kanzlers und erklärt sich in Gänze der Klasse der Wirbellosen zugehörig.
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