Meinung

Reiche werden reicher, Arme zahlreicher: Deutsche Politik forciert ungeniert soziale Verwerfungen

Die Inflation überholt Löhne und Sozialhilfe im Eiltempo, Grundbedürfnisse werden zum Luxus. Statt echte Lösungen zu präsentieren, schürt die Politik "Faulheitsdebatten". Derweil kassieren Superreiche und große Konzerne kräftig ab und Politiker bedienen sich beim Steuerzahler.
Reiche werden reicher, Arme zahlreicher: Deutsche Politik forciert ungeniert soziale VerwerfungenQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/snapshot-photography/T.See

Von Susan Bonath

Für immer mehr Menschen wird das Leben in Deutschland unbezahlbar. Der aktuelle Mindestlohn deckt kaum noch die existenziellen Grundbedürfnisse, wie Nahrung, Strom und Kleidung; die Sozialhilfe- und Hartz-IV-Sätze reichen dafür schon lange nicht mehr aus. Die geplante Erhöhung letzterer deckt nur einen kleinen Teil der Preissteigerungen, ebenso die Wohngeld-Reform. Und während Millionen Menschen die Verelendung droht, wehrt sich ein Lager aus CDU, CSU und AfD selbst noch gegen diese unzureichende Abfederung. Das dürfte die Kriminalitätsrate in naher Zukunft hochschnellen lassen.

Grundbedürfnisse werden zum Luxus

Während das Statistische Bundesamt im Oktober von einer durchschnittlichen Teuerung um 43 Prozent bei Energieprodukten und gut 20 Prozent bei Nahrungsmitteln (wohl Luxusprodukte wie Kaviar und Champagner eingerechnet) spricht, kommt Otto Normalbürger aus dem Erschrecken im Discounter nicht heraus. Denn gerade für Grundnahrungsmittel, wie Mehl, Backwaren, Milchprodukte, Gemüse, Fleisch und Eier schnellen die Preise in die Höhe.

Auch jene Billigprodukte, auf die viele Arme schon lange zurückgreifen müssen, sind davon betroffen. Allein der Preis für Kartoffeln stieg um 73 Prozent. Die Verbraucherzentrale spricht von einer intransparenten und spekulativen Teuerungsspirale, die schon 2021 eingesetzt habe. Sie vermutet dahinter die pure "Gier der Hersteller". Das Bundeskartellamt brauche mehr Befugnisse, so die Verbraucherschützer.

Von Engpässen bei Fleisch und einer massiven Teuerung ist die Rede. Auch Eier werden knapp, ihr Preis hat sich binnen Jahresfrist nahezu verdoppelt. Der Strompreis stieg derweil gegenüber 2021 im Mittel von rund 32 auf 48 Cent pro Kilowattstunde. Einige Stadtwerke, auf die Arme häufig wegen Überschuldung angewiesen sind, verlangen schon jetzt oder demnächst mehr als 50 Cent pro Kilowattstunde – eine Verdoppelung, die die Deckelungsversprechen der Bundesregierung auf 40 Cent pro Kilowattstunde ad absurdum führt.

Unzureichende Grundsicherung

Während die Jobcenter und Sozialämter die mancherorts vervier- oder verfünffachten Heizkostenabschläge im Rahmen der gesonderten Kosten der Unterkunft (KdU) zumindest weitgehend übernehmen – auch jeder Geringverdiener am Limit kann dort eine Aufstockung beantragen und bekäme zudem Freibeträge auf sein Einkommen –, müssen Betroffene alle anderen Preissteigerungen aus dem Regelsatz finanzieren.

Dieser Satz stieg zum letzten Jahreswechsel um genau 0,67 Prozent und wurde bis heute nicht angehoben. In die 449 Euro für einen Einpersonen-Haushalt sind knapp 156 Euro für Lebensmittel eingepreist – rund ein Euro mehr als letztes Jahr. Für Energie- und Wohnungsinstandhaltung erhält ein Alleinstehender insgesamt 38,07 Euro – 25 Cent mehr als 2021. Für Kinder und Jugendliche gibt es je nach Alter insgesamt zwischen 285 und 376 Euro, Behinderte in Einrichtungen und junge Erwachsene erhalten 360 Euro monatlich.

Es ist unschwer zu erkennen, dass die Berechnung der Bundesregierung für das offizielle Existenzminimum die realen Kosten nicht berücksichtigt. Sozialverbände und -initiativen beklagen seit Langem eine wachsende Unterdeckung beispielsweise bei den Stromkosten. Der Paritätische Gesamtverband forderte eine umgehende Anpassung der Grundsicherung und kritisierte das sich fortsetzende Kleinrechnen.

Dabei sind auch viele berufstätige Geringverdiener auf die Aufstockung zum Hartz-IV-Niveau angewiesen. Und es dürften mehr werden. Der seit Oktober geltende Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde reicht hinten und vorne nicht. Ein Vollzeitbeschäftigter mit Steuerklasse 1 kommt damit auf ein Netto von weniger als 1.500 Euro. Im vergangenen Jahr arbeiteten in Deutschland fast acht Millionen Menschen im Niedriglohnsektor.

Niedriglöhner, Rentner und Behinderte mitbetroffen

Hartz IV betrifft laut Bundesagentur für Arbeit (BA) gut 5,6 Millionen Menschen in sogenannten "Bedarfsgemeinschaften", darunter fast zwei Millionen Kinder. Hunderttausende Niedriglöhner und Minijobber, vor allem viele Alleinerziehende und Familien mit mehreren Kindern dabei, müssen damit leben. Letztere sind laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung besonders häufig von Armut betroffen. Dass die Kinderarmut in Deutschland steigt, ist dem Bundestag und der Regierung bekannt.

Darüber hinaus sind Hartz IV und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, also die Sozialhilfe, aneinander gekoppelt. Hunderttausende Behinderte, chronisch Kranke und altersarme Rentner sind darauf angewiesen. Seit 2004, dem Jahr vor Inkrafttreten der sogenannten Agenda 2010, hat sich die Zahl der Bezieher von Sozialhilfe auf rund 1,2 Millionen mehr als verdoppelt. Letztes Jahr mussten rund 28 Prozent aller 17,6 Millionen Rentner – fast fünf Millionen – von Nettobezügen unter 1.000 Euro leben.

Statistiken zufolge lebten schon 2020 mehr als 13 Millionen Menschen in Deutschland unter der offiziellen Armutsgrenze. Diese lag vor zwei Jahren für einen Alleinstehenden bei 1.251 Euro netto pro Monat. Angesichts der Lebenshaltungskosten mutet dies inzwischen deutlich zu niedrig an, insbesondere für Menschen in Großstädten. Dort lebte demnach 2021 fast jeder Sechste in einer überbelegten, also zu kleinen Wohnung.

Ministerium hält Plus von knapp zwölf Prozent für ausreichend

Wegen des Lohnabstandsgebots hätte eine höhere Grundsicherung Einfluss auf die Mindestlöhne: Die Politik käme dann in Zugzwang, diese ebenfalls heraufzusetzen. Doch das ist offensichtlich nicht gewollt. Die zum Januar geplante Erhöhung des Arbeitslosengeld II und der Sozialhilfe beträgt gerade einmal 11,8 Prozent – und liegt damit weit unter den realen Preissteigerungen für die lebensnotwendigsten Dinge.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hält das für ausreichend. Auf Anfrage verwies Sprecherin Tanja Franzke auf die Stellungnahmen von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in der Presse, in denen er vor allem das (auf der Kippe stehende) Bürgergeld lobt. Weiter teilte sie mit:

"Mit der geplanten Einführung des Bürgergeldes zum 1. Januar 2023 werden die Regelsätze vorab angepasst, sodass sie die aktuellen Preissteigerungen abbilden."

Was Franzke mit "vorab" meint, erklärte sie nicht. Denn die Preise sind ja schon viel höher gestiegen und klettern weiter. Außerdem fügte sie an, die Erhöhung auf 502 Euro für Alleinlebende sei "die höchste, die es je gab". Dabei vergaß sie zu erwähnen, dass auch die Inflation die höchste in der Geschichte der Bundesrepublik ist. Eine Nachfrage dazu beantwortete das BMAS bis zur Fertigstellung dieses Artikels nicht.

Erwerbslose sind oft psychisch krank

Wie immer in Krisenzeiten versuchen politische Kräfte, die Schuld für die Armut den Betroffenen in die Schuhe zu schieben. Die "Faulheitsdebatte" istvoll entbrannt. Die unionsgeführten Länder verhinderten im Bundesrat das Bürgergeld. Somit ist unklar, ob Hartz IV und Sozialhilfe überhaupt nennenswert steigen werden. Wie CDU und CSU fordert zudem die AfD eine Arbeitspflicht und harte Sanktionen gegen "ungehorsame" Hartz-IV-Bezieher.

Sozialmedizinerin Steffi Riedel-Heller sieht derlei Vorwürfe als unbegründet an, wie sie jüngst in einem Interview mit dem Freitag erläuterte. Mehr als ein Drittel der Hartz-IV-Bezieher, darunter vor allem Langzeit-Erwerbslose, sei aufgrund von psychischen und Suchterkrankungen gar nicht in der Lage, den Auflagen der Jobcenter zu folgen. Auch die körperliche Gesundheit sei bei armen Menschen Studien zufolge signifikant schlechter als bei materiell Bessergestellten. Armut sei ein strukturelles Problem im profitgetriebenen Kapitalismus und eng mit Gesundheit verknüpft. Repressionen verschlimmerten dieses nur.

Derweil greift die Armut weit in die untere Mittelschicht hinein, oft im Verborgenen. Der Sozialforscher Christoph Butterwegge warnt vor massiven sozialen Verwerfungen, insbesondere im Osten, wo die Löhne weiterhin niedriger als im Westen sind.

Armut hat immer Folgen selbst für Nichtbetroffene: Mit ihrer Zunahme wird auch die Kriminalitätsrate unweigerlich steigen, nicht nur infolge der psychischen Belastungen. Denn Menschen brauchen Geld zum Leben, sie müssen essen, sich kleiden und im Winter warm halten; sie wünschen sich soziale Teilhabe.

Reiche kassieren ab, Politiker nehmen's vom Steuerzahler

Nicht zu vergessen: Die Reichen werden trotz oder sogar dank Inflation weiterhin immer reicher. Die Privatvermögen befanden sich 2021 auf einem Rekordhoch, allerdings in wenigen Händen. Der Club der Superreichen wächst.

So kassieren etwa die großen Biotech- und Pharmakonzerne fürstlich ab. Das Rüstungs- und Kriegsgeschäft brummt bei Rheinmetall und Co. Auch die Berufspolitiker lassen es sich auf dem Rücken der Steuerzahler weiterhin gut gehen.

Ob sie demnächst noch problemlos auf die Straße gehen können, ist fraglich. Aber vielleicht müssen sie dort auch nicht hin. Eine Villa hat immerhin mehr Platz als eine Zweiraumwohnung, und ihre Residenz in Berlin lässt sich die Regierung einiges kosten – blechen muss auch dafür der Steuerzahler.

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