Meinung

Ungewollt räumt Selenskij den Erfolg der russischen Spezialoperation ein

Wladimir Selenskij hat die Entsendung von Kämpfern der Territorialverteidigung ins Kampfgebiet genehmigt. Was hat den ukrainischen Präsidenten zu diesem Schritt veranlasst und wie wird sich dieser auf die russische Spezialoperation auswirken?
Ungewollt räumt Selenskij den Erfolg der russischen Spezialoperation einQuelle: AFP © Handout/Büro des ukrainischen Präsidenten/AFP

Eine Analyse von Aljona Sadoroschnaja

Am 11. Juni wurde bekannt, dass Wladimir Selenskij ein Gesetz unterzeichnet hat, das dem ukrainischen Kommando erlaubt, Kämpfer der Territorialverteidigung für Aufgaben im Kampfgebiet einzusetzen. Berichten zufolge wurde das Dokument bereits am 6. Mai vom Vorsitzenden der ukrainischen Werchowna Rada, Ruslan Stefantschuk, und am 10. Juni vom ukrainischen Präsidenten unterzeichnet.

Besonders erwähnenswert ist, dass diese paramilitärische Struktur, die im Zuge des Euromaidans geschaffen wurde, im Jahr 2018 grundlegend reformiert wurde. Die wesentlichen Änderungen bestanden in der Erweiterung der Funktionen und Fähigkeiten der regionalen Divisionen der Bürgerwehr sowie in der Schaffung von Personalbrigaden in den Großstädten der Ukraine. Bereits im Jahre 2021 gab es in jeder Region Personalbrigaden, und Anfang 2022 kündigte der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine eine Ausweitung der Bürgerwehr auf zwei Millionen Mitglieder an.

Was die Zusammensetzung des Kaders anbelangt, so waren die regionalen Zellen hauptsächlich mit Aktivisten der Maidan-Proteste von 2004 und 2014, radikalen Nationalisten und Teilnehmern am Krieg im Donbass besetzt. Hierfür gab es mehrere Gründe. Erstens befreite die Teilnahme in der Bürgerwehr von der Einberufung zur Armee im Falle von Feindseligkeiten. Zweitens waren die Bürgerwehr-Zellen, genau wie alle anderen paramilitärischen Strukturen in der Ukraine, mit dem organisierten "Schutz" lokaler Unternehmen beschäftigt.

Auf diese Weise glaubten die zukünftigen Mitglieder der Bürgerwehr zwei grundlegende Aufgaben zu lösen: die Verwirklichung ihres politischen Potenzials und ihrer Ambitionen (in der Praxis lief dies darauf hinaus, alles "Prorussische" vor Ort zu bekämpfen) sowie die Übernahme der Finanzströme in Absprache mit anderen Machtstrukturen, was einen "Albtraum" für kleine und mittlere Unternehmen bedeutete.

Nach dem Beginn der speziellen Militäroperation Russlands in der Ukraine begann sich jedoch die Situation für die Bürgerwehr zu verändern. In Siedlungsgebieten nahe der Frontlinie mussten sie an Kampfhandlungen teilnehmen, zu denen sie weder moralisch noch technisch bereit waren. Bestenfalls führte dies zur Desertion, schlimmstenfalls zum schmachvollen Tod.

Anders war die Situation in den Regionen, die von der aktiven Phase der Spezialoperation nicht betroffen waren. Dort schlossen sich der Bürgerwehr weiterhin verschiedene "ukrainische Patrioten" an, publizierten bedrohliche Fotos mit Waffen in sozialen Medien und versprachen, "die Moskowiter zu Brei zu schlagen". Dieser Trend wurde unter anderem von vielen ukrainischen Stars aufgegriffen.

Zu diesen "Berühmtheiten" zählen solche "Celebritys" wie der Sänger der Band "Boombox" Andrei Khlyvnyuk, der Leadsänger der Band "Antibodies" Taras Topol, der Produzent und ehemaliges Mitglied der russischen TV-Show "What? Where? When?" Igor Kondratjuk, der Frontmann von "Okean Elsy" Swjatoslaw Wakartschuk, der Sänger Max Barskih sowie die Boxer Alexander Usik, Wassyl Lomatschenko und Wladimir Klitschko.

Nun riskieren die Mitglieder der regionalen Bürgerwehren dank Selenskij, ihr gemütliches Hinterland zu verlassen und sich an der Kontaktlinie zu den Armeen Russlands und der verbündeten Republiken wiederzufinden. Wozu dies in der Praxis führt, darüber haben die ukrainischen, russischen und westlichen Medien wiederholt geschrieben.

Zum Beispiel veröffentlichte die Washington Post Ende Mai Geständnisse ukrainischer Soldaten, die von der Überlegenheit der russischen Streitkräfte in Sachen Ausrüstung beeindruckt gewesen seien. "Die Russen wissen bereits, wo wir sind, und wenn ein ukrainischer Panzer von unserer Seite feuert, verrät er unsere Position. Und die Russen fangen an, mit allem zurückzuschießen – mit Raketenfeuer, Mörser. Und du betest nur, um zu überleben", klagte einer der Kämpfer.

Abgesehen davon erwähnt ein Kompaniechef, dass ihre Gefechtsausbildung 30 Minuten gedauert habe, in denen sie jeweils 30 Schuss für Schießübungen zugewiesen bekommen hätten: "Mehr bekommt ihr nicht, viel zu teuer." Anschließend wurden sie von Uschgorod in das Gebiet Lissitschansk gebracht. Nach drei Monaten waren von den 120 Männern der Kompanie nur noch 54 übrig, während der Rest getötet, verwundet oder desertiert war.

Die Kämpfer der Bürgerwehr aus Tscherkassy und des 46. Schützenbataillons der ukrainischen Streitkräfte befanden sich in einer ähnlichen Situation: Sie weigerten sich, Kampfeinsätze auf dem Territorium der LVR und DVR zu führen, aus Mangel an Waffen, Lebensmitteln, Wasser, Kommunikationsmitteln und medizinischer Hilfe.

Darüber hinaus beklagten sich die Kämpfer der Bataillone, dass sie "mit Waffen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gegen Artillerie und Luftwaffe antraten". "Und damit mussten wir gegen Hubschrauber kämpfen, die uns erbarmungslos bombardierten, und gegen Artillerie, die unsere Schützengräben mit immer größerem Kaliber dem Boden gleichmachte", sagte einer der Kämpfer.

Übrigens gibt es auch positive Beispiele von Aktivitäten der Bürgerwehr. Am 9. Juni hat Walentin Bondarenko, Leiter der Personalabteilung der 124. Brigade der Bürgerwehr von Cherson und Leiter des Netzwerks von Informanten, seinen Rücktritt erklärt und seine ehemaligen Kollegen aufgefordert, die Waffen niederzulegen und mit den russischen Sicherheitskräften und den Behörden zu kooperieren. "Widerstand ist zwecklos und ich fordere euch einfach auf, zum Büro des Kommandanten zu kommen, eine Erklärung abzugeben, euch zu ergeben und ein normales Leben zu führen", sagte er.

Die zentrale Beanstandung der noch aktiven Mitglieder der Bürgerwehr gegenüber dem Kommando bestand darin, dass sie unrechtmäßig an die Front verlegt worden waren. Jetzt, nach der Unterzeichnung des entsprechenden Dokuments durch Selenskij, erweisen sich diese Vorwürfe als rechtlich unhaltbar. Zudem sind nach Ansicht von Experten, die von der Zeitung Wsgljad befragt wurden, ein weiterer Faktor, der Selenskij zu dieser Entscheidung veranlasst hat, die wachsenden Verluste der ukrainischen Armee.

"Jetzt werden erfahrene Offiziere durch solche ersetzt, die ursprünglich als Mitglied einer Vereinigung zur Verteidigung von Gemeinden geplant waren. Und genau diese unausgebildeten Leute werden an die Front abkommandiert", sagte der ehemalige Oberst Wiktor Baranets, ein Militärbeobachter der Zeitung Komsomolskaja Prawda, gegenüber Wsgljad.

"Diejenigen, die sich anfangs zur Bürgerwehr meldeten, rechneten nicht damit, in ein echtes Kampfgebiet geschickt zu werden. Gerade deswegen hören wir von ihren Reden über die Täuschung durch Kiew, über das Fehlen von Waffen, über ihre mangelnde Bereitschaft, die Dekrete umzusetzen. Und jetzt werden diejenigen, die dagegen sind, verhaftet. Selenskij bleibt nur das Angstmachen übrig", so der Experte.

"Doch all das ist nur zum Vorteil für unsere Armee. Wir gewinnen einen erheblichen Vorteil – sowohl moralisch als auch professionell. Die eine Sache ist, mit abgehärteten Männern zu kämpfen, die die Front seit drei Monaten nicht verlassen haben, und die andere mit jungen Burschen zu kämpfen, die erst gestern zu den Waffen gegriffen haben, die Taktik nicht kennen und nur auf unflätiges Fluchen des Befehlshabers reagieren können. Sie haben keine moralische Standfestigkeit – eine Salve aus dem 'Grad' macht sie ohnmächtig", erklärte Baranets.

Der Experte äußerte auch die Zuversicht, dass anstelle der jetzigen bald neue Formationen der Bürgerwehr geschaffen werden. Dennoch, so Baranets, "gewinnt der Protest des Volkes immer mehr an Schwung". "Und je stärker dieser wird, desto größer sind die Chancen, dass wir die Spezialoperation bald beenden werden", sagte der Kriegsberichterstatter der Komsomolskaja Prawda.

"Selenskij hat jetzt einfach das legitimiert, was mit den Kämpfern der Bürgerwehr bereits geschieht. Die Ursache dafür ist wohl die zunehmende Empörung aufseiten der Kämpfer dieser Verbände. Die Aufstockung des Personals der ukrainischen Streitkräfte muss dennoch erfolgen, weil sie sichtbar an Kraft verlieren", erläutert seinerseits Alexander Perengiew, außerordentlicher Professor der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität und Mitglied des Expertenrats der "Offiziere Russlands".

Die ukrainischen Streitkräfte haben fast keine vollwertigen Kampfeinheiten mehr. Dieses Gesetz macht deutlich, dass die Ukraine kurz vor der totalen Mobilisierung steht. Ich möchte nicht ausschließen, dass die Altersgrenze für die Wehrpflicht in naher Zukunft gesenkt wird", sagte der Experte. "Unterschätzt sollten die Kämpfer der Bürgerwehr jedoch nicht, nur weil sie bisher keine Waffen in der Hand hielten. Erstens haben sie bestimmt eine minimale militärische Ausbildung erhalten. Und zweitens ist jeder Gegner, der zu schießen weiß, eine Bedrohung. Ferner können sie für verschiedene Sabotageaktionen ausgebildet werden", erklärte Perengiew.

Der Experte bezeichnete Selenskijs Entscheidung als unfreiwillige Anerkennung des Erfolgs der russischen Spezialoperation in der Ukraine. "Man kann sagen, dass sich ein gewisser Durchbruch abzeichnet, der ein siegreiches Ende der SVO (militärische Spezialoperation) zur Folge haben wird", schloss Perengiew.

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Übersetzt aus dem RussischenDieser Artikel erschien zuerst bei vz.ru

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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