Meinung

Infolge US-Politik zur Eindämmung Pekings: Chinas nukleare Aufrüstung läutet neues Wettrüsten ein

Berichte aus den USA, Peking erhöhe drastisch die Zahl seiner Atomwaffen, haben ein klares Ziel: Sie sollen der Politik wie der Öffentlichkeit höhere Ausgaben für das US-Militär schmackhaft machen. Ein neues Wettrüsten wird die Folge sein – ja, es hat wohl sogar schon begonnen.
Infolge US-Politik zur Eindämmung Pekings: Chinas nukleare Aufrüstung läutet neues Wettrüsten einQuelle: AP © Mark Schiefelbein

Analyse von Tom Fowdy

In den letzten Wochen hat die US-Zeitung Financial Times (FT) eine ganze Reihe von Berichten veröffentlicht, die sich auf mutwillige "Informationslecks" aus dem Pentagon und Interviews mit einschlägigen Beamten stützen. So war es beispielsweise die FT, die die Nachricht über Chinas angeblichen Test einer Hyperschallrakete verkündete.

Diese FT-Artikel haben alle ein gemeinsames Thema und einen gemeinsamen Schwerpunkt – sie sollen eine angebliche "militärische Bedrohung" durch die Führung in Peking dramatisch aufbauschen und vor den wachsenden militärischen Fähigkeiten dieses Landes warnen, um Forderungen nach mehr Gegenmaßnahmen seitens der USA zu rechtfertigen.

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Die neueste Geschichte dieser Art erschien am Montag. In einem Artikel zu einem Interview mit dem Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte General Mark Milley berichtet die FT, das Pentagon sei angeblich "fassungslos" darüber, dass China seinen Bestand an nuklearen Sprengköpfen dramatisch aufstocke und bis zum Ende dieses Jahrzehnts mehr als 1.000 davon besitzen werde.

Sollte diese Meldung zutreffen, so ist sie bemerkenswert: Sie würde dann nämlich einen klaren Wandel in der chinesischen Nuklearwaffenpolitik kennzeichnen, die  seit mehr als einem halben Jahrhundert auf der Idee einer minimalen Abschreckung beruht. Auch der Zeitpunkt ist bezeichnend, denn der betreffende FT-Artikel wurde nur wenige Stunden vor dem mit Spannung erwarteten virtuellen Gipfeltreffen  zwischen Chinas Generalsekretär Xi Jinping und dem US-Präsidenten Joe Biden veröffentlicht. Der Artikel bedient recht vorhersehbar eine Agenda, die am besten aus dem folgenden Milley-Zitat deutlich wird:

"Wir müssen dringend handeln, um [die US-]Fähigkeiten in allen Bereichen auszubauen – zu Lande, zu Wasser, in der Luft, im Weltraum, im Cyberspace und bei unseren strategischen Nuklearstreitkräften –, um dieser globalen Entwicklung zu begegnen."

Mit anderen Worten: Es ist die Forderung nach drastischer Erhöhung der US-Militärausgaben. Kein Wunder also, dass die Schlagzeile Milleys Behauptung hervorhebt, Chinas augenscheinliche nukleare Aufrüstung sei "eine der größten geostrategischen Machtverschiebungen aller Zeiten".

Nun gibt es sehr wohl gute Gründe zu der Annahme, dass China seine Nuklearpolitik zwar tatsächlich neu ausrichtet – allerdings nicht in der Weise, wie es in den USA behauptet wird. Mit der Abkehr von der Doktrin der "minimalen notwendigen Abschreckung" reagiert China auf die Veränderungen der geopolitischen Landschaft, in der nämlich die USA versucht haben, eine umfassende militärische Eindämmung Pekings in mehreren Gebieten an dessen eigener Peripherie zu verfolgen.

Zu solchen Eindämmungsbemühungen gehören die regelmäßige Annäherung von Flugzeugträgern an Chinas Staatsgebiet, dort auch die ständige Durchführung von US-Militärübungen (und Ermunterungen dazu auch an US-Verbündete), die Bildung von Militärkoalitionen gegen China im Rahmen von Organisationen wie der QUAD (Quadrilateral Security Dialogue) und jüngst AUKUS, durch die wiederholten und immer größeren Waffenverkäufe an Taiwan und so weiter.

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Diese Aufrüstung als etwas Ähnliches wie das atomare Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR im Kalten Krieg zu beschreiben, mag zwar verlockend sein. Doch Pekings Ziele sind gleichzeitig begrenzter und spezifischer – viel zu sehr, als dass sie auf eine Frage nach Hegemoniestreben hinausliefen.

Allem voran konzentriert sich das Ganze auf eine bestimmte Region – und hat eben keine globale Trag-, geschweige denn Reichweite. Das ist eben nicht mit dem Kalten Krieg vergleichbar, als die UdSSR am Ende, zum Zeitpunkt ihres Zusammenbruchs fast 50.000 nukleare Sprengköpfe angehäuft hatte.

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China versucht nicht, weltweit zu konkurrieren – etwa mit den USA, die über 4.400 nukleare Sprengköpfe in aktiver Bereitschaft halten –, sondern versucht lediglich in der asiatisch-pazifischen Region die Oberhand zu gewinnen, mit dem Ziel, seinen Einfluss auf Taiwan und im Südchinesischen Meer zu festigen.

Auch hat China trotzdem seine Politik der Ablehnung eines nuklearen Erstschlags nicht offiziell aufgekündigt, zu der es weiterhin zumindest Lippenbekenntnisse abgibt. Das bedeutet, dass Chinas eigene Sprengköpfe nur der Abschreckung dienen und nicht für Offensivaktionen eingesetzt werden – zumindest solange China nicht explizit etwas anderes verlautbart.

Allerdings weiß jeder – trotz dieser "No First Use"-Politik –, dass die strategischen und politischen Überlegungen zu Atomwaffen rein auf deren Potenzial beruhen und das Kräfteverhältnis entsprechend beeinflussen können.

Und hier liegt der entscheidende Punkt, der die "geostrategische Machtverschiebung" ausmacht, auf die der FT-Artikel anspielt – so übertrieben er teilweise auch sein mag. Die Absicht Pekings ist klar: Mit der Aufrüstung seines Atomwaffenarsenals will China die Wahrscheinlichkeit verringern oder ganz ausschließen, dass die USA jemals in einem Kriegsszenario gemäß ihrer eigenen Doktrin vom Nuklearen Erstschlag einen präventiven Atomangriff auf China erwägen oder gar starten würden – etwa um Taiwan zu "retten".

Pekings Aufrüstung dient dazu, dieses potenzielle Szenario zu negieren, indem es das Risiko für die USA oder auch ihre Verbündeten drastisch erhöht – dadurch, dass es einfach auch seine mögliche zerstörerische Vergeltungsmacht beträchtlich steigert. Diese Überlegungen könnten erhebliche Auswirkungen auf die Politik der umliegenden Länder haben, wie etwa Japan oder Australien. Denn selbst wenn Peking schwört, selbst zunächst keine Atomwaffen als erstes einzusetzen, lautet die wichtigere Frage hierbei: Ist man dennoch bereit, sich auf militärische Aktionen gegen eine nukleare Supermacht einzulassen? Denn Worte allein bedeuten wenig, wenn der Krieg beginnt und die Risiken größer werden.

Und so ist denn Chinas Aufbau eines Arsenals von 1.000 Sprengköpfen zwar kein Versuch, unmittelbar mit den USA zu konkurrieren – reicht aber dafür aus, China für alle Länder, selbst die USA, in einem anderen Licht erscheinen zu lassen.

Hierbei kommt außerdem ein regionaler Vorteil Chinas ins Spiel: Peking möchte seine Fähigkeit demonstrieren, Taiwan einzunehmen, ohne dass die USA und ihre Verbündeten willens oder in der Lage wären, darauf zu reagieren – eine Fähigkeit, die ihm eine solche Übernahme sogar ohne einen einzigen Schuss ermöglichen würde. Und in diesem Fall wäre auch jedwede Nukleardoktrin irrelevant – ob nun mit Ersteinsatz oder eben "No First Use".

Insbesondere für Washington ändert sich das Szenario damit grundlegend – es stellt sich nämlich die Frage, ob ein Krieg gegen China überhaupt jemals gewonnen werden könnte. Und dies wohlgemerkt zu einer Zeit, in der einige in Washington wollen, dass sich die USA auf einen Krieg einlassen, um "Taiwan zu retten". Wie wäre das in einem solchen Szenario denn möglich?

Neue alte Realität: Nukleares Wettrüsten

Das bedeutet aber auch, dass die USA darauf reagieren werden – wie es auch die im Financial Times-Artikel dargelegte Agenda deutlich macht – und ihrerseits nukleare Aufrüstung betreiben wollen. In diesem Fall müssen wir uns eingestehen, dass die Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens zu einer sehr realen Möglichkeit wird – ja, dass dieses Wettrüsten wohl auch schon läuft. Die USA möchten unbedingt verhindern, dass China die Machtverhältnisse verschiebt – aber es ist eine Realität, dass Pekings Schritte eine Reaktion auf die Schritte der USA sind.

Zusammenfassend erscheint es sehr wahrscheinlich, dass China den Kurswechsel in seiner Nukleardoktrin wohl wie oben beschrieben vollzogen hat. Anstatt nur ein notwendiges Minimum an Abschreckung aufrechtzuerhalten, will das Land nun allem Anschein nach aufrüsten, bis sein Arsenal auf das Vierfache des zuletzt gemeldeten Umfangs angewachsen ist. So sieht seine strategische Antwort auf die laufenden Bemühungen der USA aus, Peking einzudämmen – und diese Antwort scheint zum Ziel zu haben, ein Kriegsszenario von vornherein auszuschließen.

China strebt dabei nicht nach der Rolle eines nuklearen Hegemons auf globaler Ebene, hat aber dennoch beschlossen zu zeigen, dass es ein ernstzunehmender Akteur ist. Die USA ihrerseits werden dies bereitwillig hervorheben, um finanzielle Mittel für eine Aufrüstung zu fordern, was das Interview mit General Milley im FT-Artikel beweist. Und genau das steht uns jetzt ins Haus.

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Übersetzt aus dem Englischen.

Tom Fowdy ist ein britischer Autor und Analytiker für Politik und internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Ostasien. Er twittert unter @Tom_Fowdy

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