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Kafkaeske Zustände: Kiewer Gericht lässt Kirill Wyschinskij weiterhin hinter Gittern

Der russisch-ukrainische Journalist Kirill Wyschinskij sitzt seit fast 14 Monaten in U-Haft – internationalem Druck und Appellen zur Wahrung der Meinungsfreiheit zum Trotz. Heute tagte das Gericht auf Gesuch der Verteidigung, Wyschinski unter Hausarrest zu stellen.
Kafkaeske Zustände: Kiewer Gericht lässt Kirill Wyschinskij weiterhin hinter GitternQuelle: RT © Screenshot

von Wladislaw Sankin 

Das analytische Informationsportal rian.com.ua ist immer noch abrufbar. Aber die Webseite erfüllt nun einen anderen Zweck: Als Mahnung. Mahnung über die demonstrative Zerschlagung eines unbequemen Mediums in der heutigen Ukraine. Denn die Zeit auf der Webseite ist stehengeblieben. Die letzte Nachricht ist mit "15. Mai 2018, 13:00" datiert; auf der Startseite steht der Artikel "SBU-Mitarbeiter stürmten das Büro von RIA Nowosti Ukraina" von 11:51 Uhr.

Zu dieser Zeit wurde der Chefredakteur des Portals, Kirill Wyschinskij, vom Inlandsgeheimdienst (SBU) wie ein Schwerverbrecher festgenommen. Seitdem sitzt der Journalist in Haft. Ihm wird vorgeworfen, insgesamt fünf Paragrafen des ukrainischen Gesetzes verletzt zu haben, darunter schwere Delikte wie "Staatsverrat", verfassungswidrige Bestrebungen und Gefährdung der territorialen Integrität. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. 

Seitdem tagt das Gericht bis zu zweimal im Monat und verlängert immer wieder die Untersuchungshaft. Ein Prozess hat noch nicht begonnen. In dieser Zeit hat der SBU bereits eine Expertise vorgelegt, wonach in seinen Artikeln aus dem Jahr 2014 keine Corpora Delicti zu finden seien. Das hat Wyschiski in einem Statement vor Gericht am 26. Mai noch einmal aufgegriffen:

Meine Festnahme war meiner Meinung nach absolut gesetzwidrig, denn es gibt keine Corpora Delicti in den besagten Artikeln, und das habe nicht ich, sondern der SBU in einem von ihm beauftragten Gutachten festgestellt. (…) Trotz dieses Gutachtens werde ich seit über einem Jahr hinter Gittern gehalten.

Viele russische und regierungskritische Journalisten aus der Ukraine sind der Ansicht, dass Wyschinskijs Festnahme eine von der Poroschenko-Regierung initiierte Geiselnahme ist, um in einen politischen Tauschhandel mit Russland zu treten. Die Angelegenheit hat auf russischer Seite höchste Priorität. Moskau richtete eine Protestnote an Kiew mit der Forderung, die Gewalt gegen Pressevertreter einzustellen.

Viele seiner Kollegen äußern nun die Hoffnung, dass zumindest die Lockerung der Haftbedingungen ein Zeichen des Tauwetters nach dem Ende der Poroschenko-Ära sein kann.

Am 3. Juli fand eine Gerichtsverhandlung statt, die tatsächlich eine Wende hätte einleiten können: Es sollte entschieden werden, ob Wyschinskij gegen Kautionszahlung freigelassen oder unter Hausarrest gestellt werden könnte. RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan, die sich für die Freilassung von Wyschinskij vom ersten Tag seiner Verhaftung einsetzt, richtete via Twitter einen Appell auf Ukrainisch an Präsident Selenskij:

Morgen kann Kirill Wyschinskij freigelassen werden. Ein Journalist, der 413 Tage abgesessen hat, nur weil er Journalist ist. Herr Selenskij, ich wende mich an Sie. Machen Sie es!

Am gleichen Tag hat Generalstaatsanwalt Juri Lutzenko "Aktivisten" dazu aufgerufen, die mögliche Freilassung zu verhindern – ein Mittel, mit dem man bereits die Freilassung mehrerer Inhaftierter wegen der Odessa-Unruhen am 2. Mai 2014 verhindern konnte.

Um 17 Uhr (Kiewer Zeit) tagte das Gericht. Diesmal dauerte die Sitzung nur 15 Minuten. Die Staatsanwälte baten, die Verhandlungen bis zum 15. Juli zu verschieben – der höchstmöglichen Frist für eine Untersuchungshaft. Die Begründung: Sie seien neu und hätten sich mit den 26 Akten noch nicht vertraut gemacht, dafür bräuchten sie noch einige Tage Zeit. 

Wyschinskij und seine Anwälte sind empört. "Und dafür sollten wir unsere Kanzleien verlassen und allesamt nach Kiew anreisen, um das zu hören", sagten seine Anwälte. Außerdem seien einige Tage nicht ausreichend, um die ganzen 26 Akten zu studieren; der Vorwand sei deswegen nur vorgeschoben. Wyschinskij äußerte, dass das Ziel der Staatsanwaltschaft sei, ihn so lange hinter Gittern sitzen zu lassen, wie es nur geht. Die angebliche mangelnde Bereitschaft der Staatsanwälte sei eine Ohrfeige der ukrainischen Justiz.

Die politischen Spiele gehen weiter", so der Journalist.

Am Ende äußerte er die Hoffnung, dass sich mit einem neuen Staatsanwalt die Angelegenheit zum Guten wenden könnte.

Ob das nur Wunschdenken ist, wird sich zeigen. Bislang haben neue Postenbesetzungen unter dem neuen Präsidenten keine Änderungen bewirkt. Der ukrainische "tiefe Staat" wacht über die Fortsetzung der repressiven Politik. Zugelassen werden nur leichte "kosmetische" Verbesserungen, die große Politik ist nicht betroffen. Und der Fall Wyschinskij ist längst ein großes Politikum.   

Die Situation um Wyschinskij ist so groß geworden, dass er zu einem Element im geopolitischen Tausch geworden ist. Möglicherweise will man ihn gegen die ukrainischen Seeleute eintauschen. Ich denke nicht, dass Kirill Glück hat und frei kommen wird", sagte der ukrainische Journalist Ruslan Kozaba gegenüber RT.  

Kozaba wurde wegen seines Aufrufs, die Mobilisierung für den Krieg im Donbass zu boykottieren, im Jahr 2015 schuldig gesprochen und verbrachte 525 Tage in Haft. Nur aufgrund des internationalen Drucks, auch von der deutschen Linkspartei, wurde er freigesprochen. Heute setzt er sich für Menschenrechte in der Ukraine ein.

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