Europa

Putins Schachzug: Warum Kiew das selbst mitgestaltete Waffenstillstandsabkommen fürchtet

Ein Waffenstillstand im Schwarzen Meer und ein Stopp der Angriffe auf Energieinfrastrukltur – dieser ursprünglich von Paris und London ins Spiel gebrachte und von Kiew gebilligte Vorschlag ist dank der Vermittlung der USA nun Realität geworden. Eine Realität, mit der sich Kiew aber nicht wirklich anfreunden will.
Putins Schachzug: Warum Kiew das selbst mitgestaltete Waffenstillstandsabkommen fürchtetQuelle: Sputnik © Alexey Maishev

Von Witali Rjumschin

Ein Monat intensiver Diplomatie hat sich ausgezahlt: Russland und die Ukraine haben unter Vermittlung der USA ihre erste förmliche Vereinbarung getroffen, die sich bislang noch auf die Reduzierung der Feindseligkeiten beschränkt und nicht auf deren Einstellung. Die Vereinbarung sieht einen 30-tägigen Waffenstillstand im Schwarzen Meer und ein Moratorium für Angriffe auf die Energieinfrastruktur vor. Oberflächlich betrachtet ähnelt dies dem "Schein-Waffenstillstand", der einst von Frankreich und Großbritannien ins Spiel gebracht worden war, um Russland in ein strategisches Dilemma zu bringen. Das Ergebnis ist jedoch ganz anders ausgefallen.

Vor allem die westeuropäischen Akteure sind nicht vertreten. Die Diskussionen über eine zweite Phase unter Beteiligung von "Friedenstruppen" aus Frankreich und dem Vereinigten Königreich sind ins Stocken geraten. Trotz des Lärms wird es kein EU-Personal geben, das diesen Waffenstillstand überwacht. Stattdessen hat Russland die Gespräche genutzt, um der Trump-Administration wertvolle Zugeständnisse zu entlocken – darunter vor allem Hilfe bei der Wiedererlangung des Zugangs zu den globalen Agrarmärkten.

Die USA haben nun Sanktionserleichterungen für die [staatliche Agrarbank]  Rosselchosbank, russische Lebensmittel- und Düngemittelexporteure und den Zugang der Schifffahrt zu internationalen Häfen auf die Tagesordnung gesetzt. Dies waren genau die Forderungen, die Moskau während der ursprünglichen Schwarzmeer-Getreide-Initiative 2022 erhoben hatte, aber damals hatte es nur vage Zusicherungen der UNO erhalten. Jetzt hat Russland festen Boden unter den Füßen.

Auch der Energiewaffenstillstand fiel zu Moskaus Gunsten aus. Die Ukraine wollte, dass der Waffenstillstand für alle kritischen Infrastrukturen gilt, aber die endgültige Version – ausgehandelt von Russland und den USA – ist viel enger gefasst. Sie beschränkt Angriffe nur auf energiebezogene Objekte: Ölraffinerien, Kraftwerke, Wasserkraftwerke, Pipelines und so weiter. Diese Spezifität nimmt Kiew die Möglichkeit, sich auf russische Waffenstillstandsverletzungen zu berufen.

Aber es gibt Vorbehalte. Der größte: Es ist nach wie vor unklar, ob der Waffenstillstand tatsächlich in Kraft getreten ist. Alle drei Parteien haben widersprüchliche Erklärungen mit widersprüchlichen Bedingungen abgegeben.

In Bezug auf das Schwarzmeerabkommen sagt der Kreml beispielsweise, dass der Waffenstillstand erst nach Aufhebung der Sanktionen in Kraft treten wird. Er behauptet auch, dass das Abkommen Russland erlaubt, alle Schiffe, die ukrainische Häfen anlaufen, auf Waffen zu untersuchen.

In der ukrainischen und der US-amerikanischen Fassung sind diese Bedingungen jedoch nicht enthalten. Kiew behauptet sogar, dass russische Marineschiffe das westliche Schwarze Meer nicht befahren dürfen [andernfalls droht Kiew mit deren Beschuss, Anm. d. Red.] und dass der Waffenstillstand am 25. März begann.

Auch der Zeitplan für den Energiewaffenstillstand ist umstritten. Moskau besteht darauf, dass er am 18. März begann, dem Tag des Telefonats zwischen Wladimir Putin und Donald Trump. Wenn dies zutrifft, hat die Ukraine die Vereinbarung bereits gebrochen: Die jüngsten Angriffe auf russische Infrastrukturen, wie der Angriff auf die Gasmessstation Sudscha, erfolgten nach diesem Datum. Es überrascht daher nicht, dass Wladimir Selenskij darauf besteht, dass der Waffenstillstand erst eine Woche später begann. [Kiew griff auch nach diesem späteren Zeitpunkt Energieinfrastruktur in Sudscha und anderswo in Russland an, Anm. d. Red.]

Kurz gesagt, es wurde zwar ein Waffenstillstand angekündigt, aber seine Brüchigkeit ist offensichtlich. Möglicherweise gibt es nicht einmal ein einheitliches schriftliches Dokument. Seine Bestimmungen werden von jeder Partei anders ausgelegt, und die schiere Anzahl der Vorbehalte ermöglicht es jedem Beteiligten, die Vereinbarung nach Belieben für ungültig zu erklären. Infolgedessen sind echte Fortschritte auf dem Weg zum Frieden ungewiss.

Jetzt kommt die heikelste Phase: der Kampf um die Vorherrschaft in der Berichterstattung. Die nächsten Wochen werden mit technischen Gesprächen, diplomatischen Tests und gegenseitigen Anschuldigungen gefüllt sein. Kiews Ziel ist es, Russland als Verstoß gegen die Vereinbarung darzustellen, in der Hoffnung, dass Trump mit einer Verschärfung der Sanktionen und einer Erhöhung der Militärhilfe reagiert. Moskau hingegen versucht, die Ukraine als Spielverderber darzustellen, um so seine Position in Washington zu stärken und vielleicht sogar die Diskussion über die Zukunft Selenskijs wiederzubeleben.

Wer wird sich in diesem Informationskrieg durchsetzen? Russland geht mit einem klaren Vorteil ins Rennen: dem tiefen Misstrauen, das derzeit zwischen dem Weißen Haus und der Bankowa [dem Präsidialamt der Ukraine; Anm.] herrscht. Darüber hinaus hat Trump weiter reichende Ziele, darunter die Auflösung der Partnerschaft zwischen Russland und China. Dieses Ziel könnte sein Vorgehen gegenüber Moskau weit mehr bestimmen als alles, was Selenskij sagt.

Der nächste große Test ist das seit Langem aufgeschobene Abkommen über die ukrainischen Bodenschätze – ein zentrales US-Interesse, das Selenskij bei seinem jüngsten Besuch in Washington sabotiert hat. Berichten zufolge ist ein überarbeiteter 40-seitiger Entwurf in Arbeit, und Insider vermuten, dass er anspruchsvoller sein wird als der ursprüngliche.

Wird Selenskij seine Position halten? Oder gibt er unter dem Druck nach? Die Antwort könnte den Friedensprozess umgestalten. Wenn der ukrainische Staatschef einlenkt, könnte sich Trump Russland annähern. Wenn nicht, könnten die Beziehungen erneut ins Stocken geraten.

Was auch immer geschieht, das Dreieck USA-Russland-Ukraine tritt in ein neues, unvorhersehbares Kapitel ein. Doch im Moment scheint Russland am meisten von diesem unruhigen Waffenstillstand profitiert zu haben – nicht zuletzt, weil es eine westliche Drucktaktik in eine Plattform für Verhandlungen zu seinen eigenen Bedingungen verwandelt hat.

Witali Rjumschin ist Journalist und politischer Analyst. Dieser Artikel erschein zuerst in der Online-Zeitung Gazeta.ru und wurde vom RT-Team übersetzt und redaktionell bearbeitet.

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