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Was steckte hinter den Protesten in Tiflis und warum musste Russland als Sündenbock herhalten?

Echo des Maidan: Georgien hat einen riesigen, vom Westen finanzierten Sektor von Nichtregierungsorganisationen und erlebt regelmäßig Ausbrüche gewalttätiger Proteste. Gibt es da einen Zusammenhang?
Was steckte hinter den Protesten in Tiflis und warum musste Russland als Sündenbock herhalten?Quelle: Gettyimages.ru © David Mdzinarishvili / Anadolu Agency via Getty Images

Eine Analyse von George Trenin

Die Hauptstraße von Tiflis, die Rustaveli Chaussee, war für mehrere Tage blockiert, nachdem Tausende Menschen sich vor dem Parlamentsgebäude versammelt und regierungsfeindliche Parolen skandiert hatten. Weitere Demonstranten stießen dann am Abend des 9. März hinzu, und nach Einbruch der Dunkelheit begann die wütende Menge Feuerwerkskörper, Steine und Molotowcocktails auf die Polizei zu werfen und versuchte, einen Zaun aus Metall niederzureißen und das Parlament zu stürmen. Die Polizei setzte daraufhin Wasserwerfer ein, auch um die Brände vor dem Parlament umgehend zu löschen, deckte die aufgebrachte Menge mit Unmengen von Wasser ein und versprühte gleichzeitig literweise Tränengas, um die Demonstranten auseinanderzutreiben.


Was zu dieser gewalttätigen Auseinandersetzung geführt hat, ist aus der Perspektive eines westlichen Beobachters vielleicht schwer zu verstehen. Es war kein Aufstand der "Zivilgesellschaft" in dem Sinne, wie er zum Beispiel in einem Land wie Frankreich stattfinden würde. Stattdessen wurde dieser Aufruhr von Menschen organisiert, deren Lebensgrundlage durch ein von der Regierung vorgeschlagenes Gesetz bedroht war. In einem armen Land wie Georgien zahlen sich ausländisch finanzierte Tätigkeiten um ein Vielfaches besser aus als lokale Jobs. Mit dem direkten Angriff der Regierung auf die Industrie der Nichtregierungsorganisationen (NGO) trat sie gegen eine mächtige und relativ gut betuchte Lobby an.

Im Inneren der Krise

Auslöser der Proteste war zunächst der Gesetzentwurf über die "Transparenz bei ausländischer Einflussnahme", der vom georgischen Parlament in erster Lesung angenommen wurde. Am 7. März stimmten 76 Abgeordnete für die Annahme des Gesetzentwurfs, 13 lehnten ihn ab.

Während der Diskussionsphase sagten Abgeordnete der Oppositionsparteien, sie würden nicht zulassen, dass das sogenannte "russische Gesetz" im Parlament behandelt wird. Dies führte zu einer Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern dieser Gesetzesvorlage. Abgeordnete der Oppositionsparteien "Vereinte Nationale Bewegung" und "Strategia Aghmashenebeli" wurden in der Folge aus der Kammer ausgeschlossen. Daraufhin rief der Oppositionsführer Giorgi Waschadse alle Gegner des Gesetzentwurfs auf, sich der Kundgebung vor dem Parlamentsgebäude anzuschließen.

Am darauffolgenden Mittwochnachmittag meldete das georgische Innenministerium, dass in der Nacht davor 50 Polizeibeamte bei Zusammenstößen mit Demonstranten verletzt worden seien. Aufrufe der Polizei, sich "im Rahmen der Gesetze zu verhalten", blieben wirkungslos.

Am Dienstag dauerten die Kundgebungen gegen das Gesetz über "ausländische Einflussnahme" mehr als zehn Stunden. Was mit regierungsfeindlichen Reden begann, endete in Gewalt unter Beteiligung der Polizei. Demonstranten schleuderten Molotowcocktails, worauf die Polizisten mit Tränengas reagierten, um die aufgebrachte Menge auseinanderzutreiben. Die Zusammenstöße dauerten bis tief in die Nacht, bis die Demonstranten schließlich nach Hause gingen.

Am darauffolgenden Tag spielte sich alles erneut ab –, nur war die Ansammlung diesmal deutlich größer. Menschen versammelten sich mit Plakaten mit dem Slogan "#NORUSSIANLAW" (Kein russisches Gesetz) und schwenkten die Flaggen Georgiens, der Ukraine und der EU. Sie waren diesmal besser organisiert, und einige der Demonstranten, die aus den ersten Erfahrungen mit der Polizei gelernt hatten, kamen mit Skibrillen und Schutzmasken ausgestattet an die Proteste.

Wie am Tag davor begann die Kundgebung erst friedlich: Die Menschen skandierten Parolen und sangen die Nationalhymne. Aber als die Nacht einbrach, nahmen die Spannungen zu. Schließlich stellte der Vorsitzende von "Strategia Aghmashenebeli", Waschadse, dem Parlament ein Ultimatum: Ablehnung des Gesetzes über die "Transparenz bei ausländischer Einflussnahme“ und Freilassung aller, die bei den Protesten am 7. März festgenommen wurden. Laut dem georgischen Fernsehkanal Formula gab er den Behörden eine Stunde Zeit, um diese Forderungen umzusetzen.

Doch noch bevor diese Frist abgelaufen war, begannen Demonstranten, das Parlamentsgebäude zu umzingeln, was zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei führte. Die Menge warf Steine und Feuerwerkskörper auf das Gebäude, was zu zerborstenen Fensterscheiben und Verletzungen unter den Polizeibeamten führte. Die Beamten reagierten entschlossen und gnadenlos. Mit Wasserwerfern, Rauchgranaten und Tränengas konnten Polizei und Spezialeinheiten die Demonstranten schließlich auseinandertreiben. Genau wie am Vortag sollte es vier Uhr morgens werden, bis sich die Menge endlich auflöste und abzog.

Unter dem Druck der Proteste gaben die regierende Partei "Georgischer Traum" und ihre Verbündete, die Partei "Macht des Volkes", am Donnerstagmorgen eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie ihre Entscheidung bekannt gaben, das Gesetz zurückzuziehen, das diese öffentliche Unzufriedenheit hervorgerufen hatte. Trotzdem ebbten die Proteste erst am darauffolgenden Freitagnachmittag endgültig ab. Aber warum löste diese Gesetzesvorlage dermaßen heftige Proteste aus?

Das Land der ausländischen Agenten

Die Debatten über diese Gesetzesvorlage begannen erstmals im vergangenen Sommer. Damals verstanden mehrere einflussreiche, vom Westen finanzierte NGOs sofort den existenziellen Charakter dieses möglichen Gesetzes. Sie kündigten die Bildung einer "vorübergehenden technischen Regierung" an, stellten den Behörden ein Ultimatum und drohten ihnen mit einer "friedlichen Revolution", falls sie sich dem entgegenstellen sollten.

Die starke Resonanz auf die Gesetzesinitiative erscheint nicht überraschend, wenn man bedenkt, wie viele ausländische NGOs in Georgien aktiv sind. In einer im Jahr 2020 veröffentlichten Analyse des georgischen Zivilsektors wies die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) darauf hin, dass es im Land keine besondere Gesetzgebung zu gemeinnützigen oder nicht staatlichen Organisationen gibt, obwohl sie im allgemeinen Unternehmensregister eingetragen sind und aus 12.800 einzelnen Organisationen bestehen. Gleichzeitig ist die überwiegende Mehrheit dieser Organisationen laut dem georgischen nationalen Statistikdienst Sakstat auf ausländische Finanzierung angewiesen. Im Frühjahr 2022 waren 7.972 NGOs mit ausländischem Hintergrund im Land tätig. Bei einer Gesamtbevölkerung von 3,7 Millionen zählt man in Georgien somit etwa 460 Bürger je ausländische NGO. Zum Vergleich: Im November 2022 waren unter dem US-Gesetz zur Registrierung ausländischer Agenten FARA (Foreign Agent Registration Act von 1938) über 500 "Agenten" in den USA registriert.

Laut der Analyse der ADB spielten NGOs und mit ihnen verbundene Personen nicht nur eine aktive Rolle bei der sogenannten "Rosenrevolution" im Jahr 2003, als Ex-Präsident Michail Saakaschwili an die Macht kam, sondern auch 2012, als die derzeit regierende Partei "Georgischer Traum“ erstmals ihr Amt antrat. Eine Reihe von georgischen Politikern, die sowohl während der Regierungszeit von Saakaschwili als auch nach der Machtübernahme der Koalition "Georgischer Traum", in leitenden Positionen tätig waren, begannen ihre Karrieren bei NGOs.

Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 ist Georgien zu einem bedeutenden Empfänger von US-Hilfe geworden. In den 1990er-Jahren erhielt das Land durchschnittlich 96 Millionen US-Dollar pro Jahr, in den 2000er-Jahren, vor dem kurzen Krieg von 2008, 135 Millionen US-Dollar jährlich, wobei die Hilfe nach dem militärischen Konflikt erhöht wurde. In den Jahren 2008 und 2009 erhielt Georgien in verschiedenen Bereichen US-Hilfe in Höhe von 1,04 Milliarden US-Dollar. Von 2010 bis 2016 erhielt das Land jährlich bis zu 77 Millionen US-Dollar und seit 2017 im Durchschnitt bis zu 123 Millionen. Für 2020 war geplant, Tiflis über das US-Außenministerium und die US-Agentur für Internationale Entwicklung (USAID) mit insgesamt 120 Millionen Dollar auszustatten.

Die Jahresbudgets der einflussreichsten georgischen NGOs sind vergleichbar mit dem Umsatz mittelständischer Wirtschaftsunternehmen. Nach Berechnungen des Politikwissenschaftlers Beka Chedia hat allein die Soros Stiftung innerhalb von vier Jahren – von 2003 bis 2006 – mehr als 10 Millionen US-Dollar in den georgischen NGO-Sektor investiert. Das mit der CIA verbundene National Endowment for Democracy (NED) verteilte nach eigenen Angaben im Jahr 2013 Zuschüsse in Höhe von 1,2 Millionen US-Dollar an drei Dutzend georgische NGO-Projekte. Die Hauptbereiche ihrer Arbeit waren unter anderem politische Bildungsprogramme, Unterstützung für Medien –, einschließlich investigativem Journalismus –, Wahlbeobachtung und zivile Aufsicht über die Aktivitäten der exekutiven Legislative. Gleichzeitig entwickelte sich die wirtschaftliche Situation für Georgier außerhalb der NGO-Blase nicht sehr vorteilhaft: Laut Daten für 2021 betrug das BIP pro Kopf des Landes lediglich 5.000 US-Dollar.

Die "russische Spur"

Der georgische Gesetzentwurf sah ein nationales Register von "ausländischen Einflussagenten" vor. Das Register hätte alle gemeinnützigen juristischen Personen und Organisationen aufgelistet, die 20 Prozent oder mehr ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten.

Die Opposition bezeichnete das Gesetz als "russisch" und verwies auf die Entschlossenheit, sich den Versuchen der Partei "Georgischer Traum" zu widersetzen und "die Republik zurück ins dunkle Russland zu ziehen". Es gibt jedoch zahlreiche Unterschiede zwischen dem russischen Gesetz und dem georgischen Gesetzentwurf.

Erstens verpflichtet der georgische Gesetzentwurf im Gegensatz zum russischen Gesetz NGOs nicht dazu, jedem Text oder jeder Medienproduktion eine Erklärung beizufügen, die ihren Status als "ausländischer Agent" offenlegt, was laut Vertretern der Opposition "die Gefahr der Stigmatisierung" mit sich bringt. Zweitens ersetzten die georgischen Behörden den Begriff "ausländischer Agent" durch "ausländischer Einflussagent", um die von Moskau und Washington verwendeten Konnotationen zu vermeiden. Dennoch sorgte der Gesetzentwurf bei Vertretern von NGOs, Medien und der Opposition für Besorgnis, weil sie überzeugt waren, dass die Parteien "Georgischer Traum" und "Macht des Volkes" damit versuchen würden, Russland im "Kampf gegen ausländische Agenten" zu kopieren. Stattdessen plädierten sie dafür, dass die Menschen für "Meinungsfreiheit im Land" kämpfen sollen.

Die russische Version des Gesetzes veranlasste die Demonstranten in Tiflis, einen angeblichen Einfluss Moskaus hinter der Entscheidung der georgischen Regierung zu sehen. Tatsächlich stellten die Opposition und die Demonstranten den "europäischen Integrationsweg" ihres Landes dem angeblichen "prorussischen Kurs" der Regierungspartei gegenüber. Diese Position wurde sowohl von lokalen Demonstranten als auch von Russen geteilt, die aus politischen Gründen nach Georgien ausgewandert sind.

"Dieser Entwurf wurde dem russischen Gesetz entnommen. Er ist eine Kopie davon. Das brauchen wir nicht. Dieses Gesetz bedroht viele Menschen und lässt uns nicht der EU beitreten", sagte ein Einheimischer aus Tiflis namens Nino gegenüber RT. Viele junge Menschen übernahmen diesen Standpunkt. "Meine Freunde und ich sind alle zum Protest gegangen. Das ist unser Kampf für den Weg nach Europa", sagte ein Mann namens Guram, als er über die Kundgebung vom 8. März befragt wurde.

Der Gesetzentwurf wurde jedoch nicht von der Regierungspartei initiiert, sondern von der Bewegung der Partei "Macht des Volkes". Diese Gruppe wurde von ehemaligen Abgeordneten der Partei "Georgischer Traum" gebildet, die nach den Protesten vom März 2022 der Partei den Rücken zugekehrt hatten. Aus bürokratischen Gründen verschob damals die EU die Annahme des Antrags aus Tiflis für die Aufnahme in die Europäische Union. Daraufhin brachen Proteste aus, und die Demonstranten sahen die Schuld für die Verzögerung bei den georgischen Behörden.

Ein Mitglied der Bewegung der Partei "Macht des Volkes" erklärte, dass der Zweck des vorgeschlagenen Gesetzentwurfs zu "ausländischen Einflussagenten" darin bestehe, die Aktivitäten von NGOs und Medien "offenzulegen", nicht sie einzuschränken. Die Partei versicherte, dass das Gesetz die "Transparenz über ausländischen Einfluss" gewährleisten würde und fügte hinzu, dass sie sich bei der Entwicklung des Gesetzentwurfs auf die Erfahrungen der USA mit FARA verlassen und diese gleichzeitig an die Realitäten Georgiens angepasst hätten.

Am 21. Februar registrierte das Präsidium des Parlaments von Georgien die "georgische Version" und am 27. Februar die "US-Version"  des Gesetzentwurfs und legte beide dem Rechtsausschuss zur Prüfung vor. Es war die georgische Version, die verabschiedet und dann zurückgezogen wurde. Laut der Partei "Macht des Volkes" schlug diese Version im Gegensatz zur zweiten "US-Version" einen Mindeststandard an Transparenz vor und verpflichtete "ausländische Einflussagenten", nur eine jährliche Finanzerklärung abzugeben. Darüber hinaus sah die georgische Version vor, dass nur eine juristische Person zum "ausländischen Einflussagenten" erklärt werden könne und im Falle eines Verstoßes keine strafrechtliche Haftung bestehe – anders als im US-Recht und somit in der zweiten Version des Gesetzentwurfs.

Am 28. Februar bekräftigte der Vorsitzende der Partei "Georgischer Traum", Irakli Kobachidse, den Wunsch, eine der Versionen des Gesetzes anzunehmen. "Wir fordern die Venedig-Kommission auf, ein beschleunigtes Verfahren durchzuführen, nach dem die Version des Gesetzentwurfs, welche die positivste Bewertung erhalten wird, ausgearbeitet wird", sagte Kobachidse.

Zusammen mit dem Bürgermeister von Tiflis, Kacha Kaladse, und dem Parlamentssprecher Schalva Papuaschvili widerlegte Kobachidse konsequent alle Behauptungen der Opposition, das Gesetz sei eine Kopie des russischen Gesetzes. Er bestand darauf, dass die Abgeordneten die erste Version unabhängig ausgearbeitet haben, während die zweite Version vom amerikanischen FARA kopiert worden war. Am 6. März wurde dann bekannt, dass der Rechtsausschuss des georgischen Parlaments beide Varianten – die "georgische" und die "US-Version" – in erster Lesung gutgeheißen hat.

Schließlich bot Mamuka Mdinaradze, ein Mitglied der regierenden Partei "Georgischer Traum", am Dienstag nach einer Sitzung des Büros für Rechtsangelegenheiten an, beide Versionen während derselben Sitzung und nicht wie ursprünglich geplant erst am Donnerstag zu beraten. Am selben Abend, als fast kein Vertreter der Opposition mehr anwesend war, verabschiedete das Parlament in erster Lesung den Gesetzentwurf über die "Transparenz bei ausländischer Einflussnahme".

Wer heizte die Proteste an?

Während der anschließenden Diskussionen beschuldigten die Opposition und die Medien die Partei "Georgischer Traum", prorussische Ansichten zu vertreten und brandmarkten den Gesetzentwurf als "russisches Putin-Gesetz". Auch der frühere Vorsitzende der Regierungspartei, Bidsina Iwanischwili, der sich 2021 aus der Politik zurückzog, aber immer noch als informeller Herrscher Georgiens gilt, entging der Kritik nicht.

"Meiner Meinung nach ging es bei der Partei 'Georgischer Traum' immer um Selbsterhalt. Mit anderen Worten, ihr Hauptziel war es, an der Macht zu bleiben. Auf der anderen Seite ist Iwanischwili wirklich prorussisch in dem Sinne, dass er mit Russland sympathisiert, seine Mentalität ist russisch und er versteht Russland. Der Westen, westliche Werte und westliches Denken sind ihm fremd und unverständlich. In dieser Hinsicht ist er nicht nur prorussisch –, er ist ein russischer Mensch", sagte der Politologe Ghia Nodia in einem Interview mit georgischen Medien. Einige Demonstranten stimmten dieser Ansicht zu. Ani, ein lokaler Immobilienmakler, äußerte die Meinung, dass die derzeitige Führung Georgiens "autoritär" sei und einen "schädlichen prorussischen Kurs" verfolge.

Insgesamt 63 georgische Medienorganisationen und NGOs bildeten eine Koalition mit der Opposition und nannten das neue Gesetz "antidemokratisch und verfassungswidrig". Laut prowestlichen sozialen Bewegungen und Parteien schadet die bloße Diskussion über den Gesetzentwurf "der europäischen Perspektive Georgiens", da es das Land daran hindert, zwei Empfehlungen der Europäischen Kommission umzusetzen, die erforderlich sind, um den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu erlangen. Laut Paragraf 7 muss Georgien "aktivere Anstrengungen unternehmen, um ein freies, professionelles, pluralistisches und unabhängiges Medienumfeld zu gewährleisten". Darüber hinaus impliziert Absatz 10, dass die georgische Regierung "die Beteiligung der Zivilgesellschaft an Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen" sicherstellen muss. Tatsächlich warnten die USA und die EU die georgischen Behörden, dass die erfolgreiche Verabschiedung des Gesetzes dem Land die Möglichkeit nehmen würde, den Status des EU-Beitrittskandidaten zu erlangen und der NATO beizutreten.

Eine der ranghöchsten Unterstützer der Demonstranten war die georgische Staatspräsidentin Salome Surabischwili. "Ich wende mich heute Abend an alle, die sich in der Rustaveli Chaussee aufhalten, wo ich selbst oft stand. Heute bin ich in New York,  und die Freiheitsstatue steht direkt hinter mir. Sie ist ein Symbol dafür, wofür Georgien immer gekämpft hat, für das, was wir bisher erreicht haben. Ich bin mit euch, weil ihr heute das freie Georgien vertretet", sagte sie in einer Videoansprache. Präsidentin Surabischwili äußerte sich zuversichtlich, dass "niemand dieses Gesetz benötigt" und es "nach dem Diktat von Moskau geschrieben" wurde. "Dieses Gesetz ist ungültig, ich werde dagegen mein Veto einlegen", fügte sie hinzu.

Russland bestreitet jede Beteiligung an den Ereignissen. Der Pressesprecher des Kremls, Dmitri Peskow, beteuerte, dass der Auslöser der öffentlichen Unruhen in Georgien "nichts mit der Russischen Föderation zu tun" habe. "Gleichzeitig sehen wir eine Hand in dieser Angelegenheit und die ist alles andere als 'unsichtbar'. Wir konnten sehen, von wo aus die Präsidentin von Georgien ihr Volk ansprach. Sie sprach nicht in Georgien zu Georgiern, sie sprach ihr Volk aus den Vereinigten Staaten an. Und eine sichtbare Hand versucht ernsthaft, in Georgien antirussische Empfindungen zu injizieren", sagte er.

Frieden oder Rebellion?

Nachdem vorläufige Informationen darüber aufgetaucht waren, dass der Gesetzentwurf zurückgezogen werden soll, beeilte sich der Vorsitzende von "Georgischer Traum", Mamuka Mdinaradze, die Situation bei einer eiligst einberufenen Pressekonferenz zu klären. Er sprach über das Verfahren für den Rückzug des Gesetzentwurfs. Der in erster Lesung verabschiedete Gesetzentwurf zur "Transparenz bei ausländischer Einflussnahme" werde laut Mdinaradze in zweiter Lesung abgelehnt. Die zweite Version des Gesetzes über "die Registrierung ausländischer Agenten", über die bisher noch nicht abgestimmt wurde, sei bereits vom Parlament zurückgezogen worden. Es wurde auch festgehalten, dass ein Schreiben an die Venedig-Kommission bezüglich der Rücknahme beider Gesetzentwürfe gesendet wurde.

"Wir sehen, dass das verabschiedete Gesetz zu Meinungsverschiedenheiten in der Gesellschaft geführt hat. Durch Lügen wurde der Gesetzentwurf in ein negatives Licht gerückt und ein Teil der Bevölkerung in die Irre geführt. Der Gesetzentwurf wurde fälschlicherweise als 'russisches Gesetz' bezeichnet und seine Verabschiedung in erster Lesung wurde öffentlich als Abweichung vom europäischen Kurs dargestellt", erklärten die Parteien "Georgischer Traum" und "Macht des Volkes" in einer gemeinsamen Stellungnahme, bei der auch das anhaltende Engagement beider Parteien für "den Fortschritt Georgiens auf dem Weg der europäischen Integration" betont wurde.

Die Entscheidung der Regierung zeigte Wirkung: Am Freitagnachmittag waren die Proteste vollständig abgeebbt, die Barrikaden im Zentrum von Tiflis abgebaut. Dies geschah jedoch nicht, bevor die Hauptstadt eine weitere Nacht der Proteste erleben musste, die von einer offen antirussischen Stimmung dominiert wurde. Die Proteste gingen am Donnerstag weiter, und die Opposition stellte noch radikalere Forderungen. Eine Gruppe georgischer Armeeveteranen forderte sogar den Rücktritt der Regierung und vorgezogene Parlamentswahlen.

"Diese Regierung ist nicht in der Lage, Georgien in die EU zu führen, diese Regierung lässt lediglich friedliche Menschen verprügeln. Diese Regierung sollte zurücktreten und vorgezogene Parlamentswahlen abhalten", verkündete ein Mann in Tarnkleidung, der sich selbst als Armeeveteran bezeichnete.

Während der Proteste am Donnerstag wurde eine russische Flagge verbrannt, und man hörte einige Demonstranten Parolen skandieren, die eine Lösung der "Abchasien-Frage" forderten. Die Menge skandierte "Suchumi" als Parole – den georgischen Namen der Hauptstadt der teilweise anerkannten Republik Abchasien, in der russische Friedenstruppen stationiert sind – und forderte, dass das "Problem" mit der Region gelöst werde.

Es ist erwähnenswert, dass nicht alle Einheimischen die Ansichten der Demonstranten teilen. Einige Georgier, insbesondere diejenigen, die vom Tourismussektor leben, und russische Migranten, waren wesentlich weniger begeistert von den Ereignissen.

Irakly, ein Einwohner von Tiflis, fasste es so zusammen: "Es gibt einen Unterschied zwischen diesen Protesten und dem realen Leben. Vergangenes Jahr war alles gut. Der georgische Lari nahm gegenüber dem Dollar an Wert zu, es zirkulierte viel Geld. Das lag vor allem an den Russen und Ukrainern, die hier ankamen. Im Sommer gab es auch eine Rekordzahl an Touristen und Wohnraum war sehr gefragt. Die Leute haben sogar Objekte gemietet, die sie vorher nie genommen hätten. Wir hatten anständig Geld. Und jetzt? Mit diesem Gesetz, all diesen Protesten und Kundgebungen sieht es erneut ziemlich schlecht aus. Offenbar will jemand nicht, dass es bei uns gut läuft. Wer benötigte dieses Gesetz? Ich weiß nicht, was mit diesem Gesetz los ist, aber der Markt ist rückläufig. Der Markt auf Airbnb ist um 20 Prozent eingebrochen. Die Leute haben Angst und ziehen weiter. Wer braucht das alles?"

Aus dem Englischen

George Trenin ist ein russischer Journalist und Politikwissenschaftler.

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